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Alexander Koller: Kommunikation und Identität in David Lynchs Blue Velvet und Wild at Heart

Hausarbeit
PS: Aktuelle Probleme der Gegenwartsphilosophie
Dr. Gerard Dubrulle
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Sommersemester 1995

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorbemerkungen
  2. Zu Bio- und Filmographie Lynchs
  3. Kommunikations- und Identitätsstrukturen in ,Blue Velvet’ und ,Wild at Heart’
  4. Schlußbemerkung
  5. Literaturverzeichnis

I. Vorbemerkung

[1] Ziel der vorliegenden Arbeit ist, anhand der beiden Filme ,Blue Velvet’1 und ,Wild at Heart’2 Grundmechanismen gegenwärtiger menschlicher Kommunikation und Identität aufzuzeigen.

[2] Lynch hat in seinen Werken durchgehend die Befindlichkeit der westlichen Gesellschaft (insbesondere der USA) impliziert analysiert und kommentiert. Er bedient sich dazu zum einen der ironischen Überzeichnung und exzessiver Verwendung kulturindustrieller Klischees, zum anderen einer zeichentheoretisch geprägten Bildersprache, die es ihm ermöglicht, die erzählte Geschichte in einen übergeordneten Kontext zu stellen. Hans Peter Rodenberg bemerkt in diesem Zusammenhang: „Indem die dargestellten Menschen zugleich auch Stereotype verkörpern und ihre Sehnsüchte (...) sich in Klischees äußern, verschafft Lynch sich und dem Zuschauer ironische Distanz und Raum zur Reflexion des Dargestellten."3 (Diese Mechanismen werden in Teil III und IV weiter ausgeführt und exemplifiziert werden.)

[3] Im Verlauf dieser Arbeit wird gezeigt werden, wie Lynch die Erstarrung zwischenmenschlicher Kommunikation und die hilflose Schaffung von Scheinidentitäten nachweist und begründet. Lynchs Filme erweisen sich in diesem Zusammenhang gleichermaßen als Produkt und Kritik der kulturindustriellen Struktur, die Rodenberg folgendermaßen auf den Punkt bringt: ,,Der ursprünglich (früh-) bürgerlich-emanzipatorische Traum von der Durchdringung von Kunst und Leben fand in den achtziger Jahren einmal mehr seine gesellschaftliche Umkehrung in der Durchdringung von Kommerz und warenästhetisierter Alltagswelt."4

II. Zu Bio- und Filmographie Lynchs

[4] Lynch ist geboren am 20.1.1946 in Missoula, Washington, einer 30000 Einwohner zählenden Kleinstadt. Während seiner Kindheit lernt er mehrere amerikanische kleinere Städte kennen; Erfahrungen, die sich in seinen Werken häufig in der Gestaltung der Schauplätze niederschlagen. Nach Abschluß seiner Schullaufbahn besucht er die Kunsthochschule in Philadelphia mit dem Ziel, Maler zu werden. Seine Ausbildung in der Malerei zeigt sich in allen seinen filmischen Arbeiten immer wieder in durchkomponierten Einstellungen. Mit dem Film als Medium kommt er zunächst nur beiläufig in Berührung, sein erstes filmisches Erzeugnis ist der teilweise animierte Kurzfilm ,The Alphabet’5 . ,The Alphabet’ behandelt bereits ein zentrales Thema Lynchs, den Verlust der Unschuld durch Lernen, durch Organisierung des Wissens und des Lebens. Lynch erhält - für ihn selbst überraschend - ein Stipendium des ,American Film Institute’ in Los Angeles. Dort dreht er den 34minütigen Film ,The Grandmother’6 . Erneut eine Verbindung von Real- und Animationsfilm zeigt ,The Grandmother’ einen halbwüchsigen Jungen und dessen - für den Zuschauer nicht definitiv unterscheidbar - reale und traumhaft erlebte Welt. Das nächste filmische Projekt Lynchs erstreckt sich über fünf Jahre. Teilweise finanziert vom American Film Institute dreht er seinen ersten Spielfilm: ,Eraserhead’7 . Geprägt von seinem Aufenthalt in Philadelphia, wo er in einer herunter gekommenen Industriegegend wohnt, bezeichnet Lynch selbst diesen Film als seine ,,Philadelphia-Story"8 . Entsprechend spielt ,Eraserhead’ , in schwarzweiß gedreht, in einer endzeitlichen, von Fabrikgebäuden und Maschinen beherrschten Stadt. An ,Eraserhead’ lassen sich zwei wichtige Techniken Lynchs erstmals festmachen: Zum einen die den Bildern gleichrangig eingesetzte Tonspur, zum anderen die Erweiterung der Narration über das erzählte Geschehen hinaus auf die (technische) Darstellung: „Jeder Schnitt bei Lynch funktioniert vollständig konventionell, aber er ist dem Erzählten nicht mehr untergeordnet."9 Daraus (und der Handlung, auf die einzugehen hier der Raum fehlt) ergibt sich ein Kennzeichen fast aller Filme Lynchs: ,,Es ist nicht vorgegeben, ob ,Eraserhead’ eine Komödie, ein Horrorfilm, ein Familiendrama, eine surrealistische Studie oder eine pränatale Wahrnehmungsphantasie ist."10

[5] Mit ,Eraserhead’ wird Lynch bekannt, der Film entwickelt sich zu einem Kultfilm. Lynch wird daraufhin die Realisierung des Drehbuchs zu ,The Elephant Man’11 angeboten, womit er sich erstmals an einem schon vorgegebenen Stoff versucht. ,The Elephant Man’ wird sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik ein großer Erfolg, er wird für acht ,Oscars’ nominiert. Bemerkenswert ist insbesondere, daß es Lynch gelingt, ohne die Geschichte des ,Elefantenmenschen’ zu vernachlässigen, ein genaues Bild der Gesellschaftsverhältnisse im viktorianischen England zu schaffen.

[6] Für Hollywood interessant geworden, erhält Lynch zwei große Angebote: Den dritte Teil der ,Star Wars’-Trilogie, ,Return of the Jedi’, und die Verfilmung von Frank Herberts Roman ,Dune’. Er entscheidet sich für letzteres, aufgrund der größeren Freiheit als Regisseur und der Möglichkeit, das Drehbuch selbst zu verfassen Trotzdem gelingt es ihm nicht, das Buch adäquat umzusetzen, nicht zuletzt deshalb, weil die zeitlichen Vorgaben einer großen Hollywood-Produktion in deutlichem Kontrast zu seinen Vorstellungen stehen. ,Dune’12 besticht durch seine Optik, die Bilder und deren Übergänge ineinander, insbesondere in den häufigen Traumsequenzen, zu denen Seeßlen bemerkt: ,,Auch die Träume in ,Dune’ versperren sich einer linearen Erzählung. (...); es sind Zukunftsbilder, die sich weder gotisch (als Darstellung des triebhaften Parallellebens) noch freudianisch (als Formulierung der verdrängten Wünsche) deuten lassen, sondern am ehesten als bildhafte Organisation eines Wissens, das von sich nichts weiß."13

[7] Nach dem Mißerfolg ,Dune’ wendet Lynch sich einem eigenen Drehbuch zu: ,Blue Velvet’. Mit diesem Film wird er endgültig bekannt, er erhält fünf Auszeichnungen der amerikanischen Kritikervereinigung und eine Oscarnominierung. ,Blue Velvet’ zeichnet sich insbesondere aus durch die durchgehende Farbdramaturgie und die Hauptfiguren. (Ebenso wie ,Wild at Heart’ wird ,Blue Velvet’ ausführlich in Abschnitt III behandelt, deshalb an dieser Stelle nur wenige Angaben.)

[8] Lynchs nächstes Projekt ist ein Kurzfilm für das französische Fernsehen, ,The Cowboy and the Frenchman’14 , eine Westernparodie, welche zeigt, daß er als Amerikaner auch in der Lage ist, sich den europäischen Blickwinkel zu eigen zu machen. Das Fernsehen bleibt zunächst sein Medium, er gestaltet und produziert die amerikanische Serie ,Twin Peaks’15 , für die er auch einige Folgen inszeniert und Drehbücher schreibt, so daß ,Twin Peaks’ allgemein als ,Lynch-Serie’ gilt. ,Twin Peaks’ stellt zunächst die Gewohnheiten amerikanischer Fernsehserien auf den Kopf und hinterläßt in der Folge Spuren in der Gestaltung von Fernsehproduktionen allgemein.

[9] Die vielschichtige, komplizierte Handlung wird angereichert mit übersinnlichen Phänomenen und den äußerst skurrilen Figuren. Verbunden mit einer für das Fernsehen neuen ästhetischen Gestaltung und serienuntypisch gut agierenden Schauspielern wird so eine Wirkung erzielt, die die Serie in den USA und auch in Deutschland zum Erfolg werden läßt.

[10] Lynchs nächster Film ,Wild at Heart’ wird beim Filmfestival in Cannes mit der höchsten Auszeichnung, der ,Goldenen Palme’ , bedacht. ,Wild at Heart’ schildert die Flucht eines Liebespaares vor verschiedenen Widersachern, wobei der Film seine hauptsächliche Aussagekraft durch die Figuren und deren Beziehungen sowie durch die optische Gestaltung erhält: In ,Wild at Heart’ bezieht der Regisseur die Ästhetik von Musikvideos und Werbeclips ebenso ein wie etliche Klischees der Populärkultur, um diese Bestandteile in einer Form zu komponieren, die sie zugleich faszinierend und fragwürdig erscheinen läßt: Lynch benutzt in ,Wild at Heart’ die Versatzstücke der Kulturindustrie, um mit sardonischem Gelächter auf den Ausverkauf aller Ideale hinzuweisen."16

[11] Der bislang letzte Film Lynchs ist die Vorgeschichte zur Fernsehserie ,Twin Peaks’, ,Twin Peaks - Fire walk with me’17 . Der Komplexität der Serie entsprechend ist der Film dem Zuschauer nur verständlich, wenn er jene gesehen hat. Selbst dann jedoch beschränkt sich das ,Verständnis’ letztlich auf die Einsicht, kaum etwas verstanden zu haben.

[12] ,Twin Peaks - Fire walk with me’ ist, was das Lynch-typische Verschränken und Wechseln der Zeit-, Handlungs- und Bedeutungsebenen angeht, der bisherige Höhepunkt in Lynchs Werk; aufgrund der Gebundenheit an die Fernsehserie jedoch auch zugleich der Film Lynchs, der die geringste Beachtung fand und findet.

III. Kommunikations- und Identitätsstrukturen in ,Blue Velvet’ und ,Wild at Heart’

III.1. ,Blue Velvet’

[13] In ,Blue Velvet’ werden die Hauptfiguren in Paarkonstellationen präsentiert. Es sind derer drei: Jeffrey und Sandy, Jeffrey und Dorothy, Dorothy und Frank. Hinzu kommt die jeweilige Gegenüberstellung der an diesen drei Paarkonstellationen beteiligten Männern beziehungsweise Frauen (Jeffrey - Frank, Sandy - Dorothy).

[14] Die Beziehung zwischen Jeffrey und Sandy ist die oberflächlichste und zugleich die konventionellste. Sandy ist angezogen vom verborgenen Teil von Jeffreys Persönlichkeit, ohne diesen Teil wirklich kennenlernen zu wollen. Sie verliebt sich in ihn, da er anders ist als die Gleichaltrigen und warnt ihn zugleich davor, diesem Anderssein nachzugeben. So zeigt Lynch an Sandys Einstellung zu Jeffrey grundlegende Züge bürgerlicher Existenz: Jeder Hinweis darauf, daß die Welt nicht so ist, wie sie scheint (und wie sie scheinen soll) wird entweder verdrängt oder aber er erzeugt eine naiv-utopische Gegenreaktion wie zum Beispiel in Sandys Erzählung von den Rotkehlchen, die eines Tages die Liebe (und damit die Erlösung) zurückbringen werden. Jeffreys auf eben diese ,Vision’ lautet: ,,Du bist ein nettes Mädchen."18 Es ist eben diese Nettigkeit, die ihn anzieht, etwas, das er kaum für möglich hält. Darüber hinaus erscheint seine Zuwendung zu ihr rein freundschaftlich, sexuell anziehend ist für Jeffrey nicht Sandy sondern Dorothy (und ihr Verhältnis mit Frank).

[15] Das Dreieck Jeffrey - Dorothy - Frank ist gekennzeichnet durch stetigen Wechsel der Subjekt-Objekt-Funktionen und -Relationen sowie durch die einzelnen Charaktere, die sich zueinander wie Ergänzungen verhalten. Die erste Szene in ,Blue Velvet’ , an der alle drei teilnehmen, zeigt die grundlegenden Strukturen der Persönlichkeiten und deren Wechselwirkungen:

[16] Zu Beginn der Szene, als Jeffrey im Wandschrank versteckt Dorothy beobachtet, ist er der klassische Voyeur: Er ist anonym, dem Zugriff entzogen, seinem Objekt unbekannt, mithin selbst vollständig sicher vor Objektivierung. Wichtig ist zu diesem Zeitpunkt auch die bereits vorhandene sexuelle Erregung Jeffreys, die sich kurz zuvor beim Beobachten Dorothys im Nachtclub eingestellt hatte, und nun durch ihr Entkleiden noch gesteigert wird. Das Machtverhältnis ist somit verbunden mit Sexualität, und so bleibt es den gesamten Film, was die Durchdringung von Privatem, Individuellem und Öffentlichem, Gesellschaftlichem deutlich macht.

[17] Dieses Machtverhältnis kehrt sich um, als ihn die mit dem Messer bewaffnete Dorothy entdeckt. Er wird zum Schuldigen und vollends objektiviert, als sie ihn beim Namen nennt. Die aufklärerische Tradition und Intention, Phänomene durch Benennung greifbar, katalogisierbar und verfügbar zu machen, nimmt Lynch hier wörtlich in Bezug auf den anderen Menschen; Jeffreys vorheriger Status des Unangreifbaren wird durch die Benennung vollständig umgekehrt.

[18] Die sich anschließende sexuelle Annäherung der beiden ist tatsächlich gar keine, sie verbietet ihm, sie zu berühren. Das Subjekt-Objekt Verhältnis ändert sich erneut, als Frank an die Tür klopft. Jeffrey nimmt seine alte Position im Schrank wieder ein, nun jedoch unter neuen Bedingungen: Erneut der Beobachter ist er nun zugleich Opfer und Täter. Er hat aufgrund seiner entrückten Stellung Anteil an Franks Macht über Dorothy und wird infolgedessen auch zum Mittäter.

[19] Franks Verfügungsgewalt über Dorothy ist umfassend und doch geprägt von Verlustangst: ,,Dorothy is completely objectified by Frank: He tells her not to look at him; to look is to have power."19

[20] Bei der folgenden Szene ist es fraglich, ob es sich um eine Vergewaltigungsszene handelt: Zwar rührt Dorothys Bereitschaft letztlich daher, daß Frank ihren Sohn in seiner Gewalt hat (sie gibt also einer Erpressung nach), jedoch ist auch sie offenkundig erregt und erlangt gerade nur in der Sexualität zeitweise Macht über Frank. Dieser braucht sie so sehr als Ziel (Objekt) seiner Aggressivität (seiner einzigen Möglichkeit, seine Identität gegenüber anderen zu erhalten), daß er alles täte, um sie vor dem Tod zu bewahren. Wesentlichere Züge einer Vergewaltigung trägt hingegen Jeffreys Beobachtung des Geschehens: „Jeffrey benutzt Franks Gesicht als Spiegel, und es besteht kein Zweifel an dem, was sein inneres Auge in diesem Moment sieht."20 Jeffreys Beiwohnen ist nicht Bestandteil der ‘Abmachung’ zwischen Dorothy und Frank, und so wird er zum einen erneut schuldig gegenüber Dorothy und zum anderen zum Verbündeten Franks. Die Affinität Jeffreys zu Frank wird noch offensichtlicher, als Dorothy später doch Berührung von ihm fordert, Berührung in Form von Schlägen. Jeffreys Schlagen zeigt, daß er Frank nicht unähnlich ist, letztlich jagt und stellt er sich im Verlaufe des Films selbst.

[21] So stellt Lynch Jeffreys Identitätsbildung dar als einen Prozeß von schuldig werden gegenüber anderen und sich selbst. Eine bedeutende Rolle spielt dabei die Art und Weise in der sich miteinander verständigt wird: Es sind das Sprechen, das Sehen und das Berühren beziehungsweise dessen Verbot, das die Beziehungen der Personen kennzeichnet. Weder darf Jeffrey Dorothy anfassen, noch Dorothy ansehen. Sandy gegenüber versagt sich Jeffrey die Berührung, als habe er Angst davor, etwas zu zerstören, Frank schlägt er ins Gesicht um sich von ihm abzusetzen, etwas gegen Franks Aussage zu stellen: ,,Du bist wie ich."21 Frank, in seiner permanenten Angst seine auf Aggression gegründete Identität zu verlieren, wütet sowohl sprachlich als auch mit Berührungen (Schlägen) und Blicken (Niemand darf ihn anschauen, er läßt niemanden aus den Augen).

[22] Dorothy, als der Frau in dem Dreieck, kommt eine besondere Bedeutung zu. Zwar will sie ihr Kind unbedingt aus Franks Gewalt befreit haben, bringt ansonsten jedoch keine gegen ihn gerichtete Äußerung vor. Sie bezeichnet ihn lediglich Jeffrey gegenüber als ,,gefährlich"22, wobei Jeffrey genau dies für sie nicht ist. Er ist für sie derjenige - das Objekt - von dem sie genau das bekommen kann, was sie von Frank erduldet.

[23] Nicht auf den Handlungsinhalt kommt es also an, sondern auf die psychologische Handlungskonnotation. Dorothy begehrt von Jeffrey ähnliche sexuelle Handlungen wie von Frank; vom einen nimmt sie sie an, den anderen verführt sie dazu. Lynch zeigt damit einen grundsätzlichen postmodernen Rettungsversuch der autonomen Identität, welcher darin besteht, eine fremdmotivierte Handlung umzuwandeln in eine selbstbestimmte gegen Andere.

[24] Auch Jeffrey bemerkt Sandy gegenüber: ,,Er (Frank) ist ein gefährlicher Mann."23 Damit trifft er einerseits das Hauptmerkmal Franks dessen Umwelt betreffend, enthüllt Sandy aber andererseits nichts darüber, wie tief diese Gefahr reicht und worin sie verwurzelt ist und sich ausdrückt. Er enthält ihrer Naivität so ein Wissen vor, daß diese zerstören würde, und läßt sie damit nur so angreifbar und verletzlich wie sie ist. Seeßlen bemerkt zu den Gesprächen zwischen den beiden: ,,In den leitmotivisch wiederkehrenden, scheinbar in einem Meer der Bizarrerien so konventionell wirkenden Szenen, in denen sich, zum Beispiel Sandy und Jeffrey gegenseitig den Stand der Dinge erklären wollen, reicht die Sprache näher an die Bilder als in jedem Lynch-Film zuvor und macht doch gerade dadurch ihre Unzulänglichkeit und ihre Gewalt besonders deutlich: Die größte Gewalt in ,Blue Velvet’, alle Bedrohung und alle Demütigung, geht von der Sprache aus."24 Die Gegenüberstellung Sandy - Dorothy ist eine andersgeartete als die Gegenüberstellung Jeffrey - Frank: Während in letzterer Frank die finale Aktualisierung all dessen darstellt, was in Jeffrey, bereits potentiell angelegt ist, und Jeffrey gegen Frank somit an seiner eigenen Persönlichkeitswerdung arbeitet, erscheinen die beiden Frauen zunächst völlig verschieden.

[25] Der auf naiver Ignoranz gegründeten Unschuld und Unwissenheit Sandys steht die in Schuldverhältnisse verstrickte und um deren zwischenmenschliche Dynamik wissende Dorothy gegenüber. Lynch verbindet diese beiden Pole durch Jeffrey, der durch Dorothy genau das erfährt, was Sandy fehlt.

[26] Darüber hinaus verdeutlicht die Figur Jeffreys auch, „(...) daß die Konfrontation beider Welten in der Realität nicht existiert, sondern in jedem von uns beide Aspekte vorhanden sind."25 Jeffreys Identität ist also der permanenten Spannung ausgesetzt zwischen dem gestaltlosen, weil durch Unwissenheit unabgrenzbaren Ursprungszustand und einem mehrfach gebrochenen Selbstbewußtsein, daß sich auf die Erfahrung gründet, wie unzureichend - da unvollständig - ersteres ist.

[27] In diesem Zusammenhang ist auch die durchaus vorhandene Fähigkeit Franks begründet, Sentimentalität zu empfinden (wie in der Gesangsszene im Bordell). Seine wesentlich gebrochenere Persönlichkeit sucht nur um so mehr nach der ursprünglichen Einheit, die es zurückzugewinnen gilt. Die extrem entfremdete Art und Weise dieser Anstrengung zeigt sich in seinen Sexualpraktiken, die geprägt sind von Mutterbezogenheit: „Baby will ficken!"26 und ,,Daddy kommt nach Hause."27

[28] Der verzweifelte Versuch der Rückgewinnung der Welt findet seinen Höhepunkt bezeichnenderweise in der Sprache, in dem Satz: ,,I fuck everything that moves!"28

[29] Lynch beschreibt in ,Blue Velvet’ letztlich eine Gesellschaft, in der der Weg zum Selbstbewußtsein, zur identifizierenden Absetzung von Anderen zwangsläufig auf die eigene Innenwelt zurückführt, ohne jedoch irgendwann sein Ziel zu erreichen. Persönliche Identität bleibt immer Stückwerk und als solches gegründet auf Gewaltakte (psychischer wie physischer Natur) gegen Andere. Seeßlen formuliert hierzu in Anlehnung an Hegel29 : „Je heftiger wir versuchen, in die fremde und seltsame Welt zu gelangen, desto grausamer werden wir zurückgezwungen in die eigenen Labyrinthe."30

III.2. ‘Wild at Heart’

[30] ,,Vordergründig ist ,Wild at Heart’ die Geschichte einer bedrohten Liebe in einem aus den Fugen geratenen Amerika, hintergründig wird hier die Frage nach der (post-) modernen Befindlichkeit in einer von Bildern und Klischees verstellten Welt überhaupt aufgeworfen."31 Um dies zu erreichen, verwendet Lynch eben diese Bilder und Klischees. In ,Wild at Heart’ findet jegliche Äußerung statt in Form des Zitats, Kommunikation beschränkt sich auf vorgefertigte Posen und Formeln. Entscheidend ist, daß Lynch auch die Kommunikationsprozesse zwischen den Filmfiguren wiederum mittels Zitaten aus der Filmgeschichte und der Populärkultur allgemein darstellt. Das Geschehen im Film wird also in seiner Darstellung gespiegelt, der Zuschauer sieht sich mit seinen eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten und -erwartungen gleich doppelt konfrontiert. Die beiden Hauptfiguren - erneut ein Paar - Sailor und Lula erweisen sich als Ansammlung kulturindustrieller Merkmale, sie sind zusammengesetzt aus Rollenklischees vor allem der Filmgeschichte: Als solche Konstrukte bieten sie Lynch die Möglichkeit, im Verlauf des Films immer wieder das Zeichen als solches zu thematisieren und dessen Verwendung in der (post-) modernen Kulturindustrie aufzuzeigen: ,,Lynch spielt in ,Wild at Heart’ mit diesen Formeln, dreht sie um und montiert sie ironisierend gegeneinander."32

[31] Es entsteht so ein Film, der in seiner Konstruktion nahezu chaotisch erscheint: ,,Diese Geschichte (...) wird von Lynch nicht wirklich erzählt. Sie wird vielmehr hingeworfen und zerfällt in Einzelheiten, die nichts mehr miteinander zu tun haben wollen."33

[32] Auch Sailor und Lula wollen mit der sie umgebenden Welt nichts mehr zu tun haben, sie beschäftigen sich vorrangig mit sich selbst und beschränken ihren Bezug zur Außenwelt darauf, ihr Posen und Verhaltensmuster abzuschauen. So erlangen beide eine Identität, die sich darauf gründet, Klischees ernst zu nehmen.

[33] Lynch gelingt es auf diese Weise, Kritik zum Beispiel an der Werbung mit ihren eigenen Mitteln zu üben: ,,(...), gibt Lynch ihnen (den Konsumgütern) jene Bedeutung zurück, die ihnen die Werbung angemaßt hat, und durchbricht damit die Konventionen der Werbung, ihre Bedeutungen frivol und folgenlos benutzen zu können."34

[34] Insofern stellt ,Wild at Heart’ eine extrem zugespitzte Darstellung gegenwärtiger gesellschaftlicher Wirklichkeit dar, die anhand ihrer Hauptfiguren zeigt, wohin die Konsequenz der Entwürfe der verschiedenen Medien führt: „,Wild at Heart’ ist ein Film der Epiphanien, der den schönen Schein der Warenästhetik nutzt, um eine trügerische Oberfläche von zum Stereotyp erstarrten Situationen herzustellen, hinter der die Menschen verzweifelt nach der Verwirklichung ihrer Gefühle suchen."35

[35] Diese ;Suche findet, wie bereits angesprochen, nur noch statt in Form von Adaptionen klischeehafter Verhaltensweisen, was zu Robert Fischers Feststellung führt: ,,Und wenn man Sailor und Lula dann richtig kennenlernt, stellt man fest, daß man sie eigentlich schon immer kannte."36
Man tut dies unter anderem deshalb, weil die identitätsbegründende Absetzung des Individuums von der Allgemeinheit kaum noch möglich ist: Zu sehr ist die gesamte Wirklichkeit und auch die einzelne Persönlichkeit bereits durchdrungen von den Bildern, Vorstellungen und Mechanismen der Kulturindustrie. ,,In David Lynchs Filmen scheitert der Versuch, vom Ich auf die Welt zuzugehen, weil es ein ,Draußen’ offenbar nicht mehr gibt."37

[36] Davon geprägt ist auch die Verständigung der Menschen, Sailor und Lula reden zum einen wenig miteinander, weil sie ohnehin schon wissen, was der / die andere zu sagen hat, zum anderen ist das, was sie sagen bestimmt von äußerst beschränktem Zusammenhangsbewußtsein und unbestimmter Sehnsucht. Die kaleidoskopartige Zersplitterung der Wahrnehmung der Welt findet ihren Ausdruck in der Sprache: ,,When Lula does speak, she reveals her limited and confusing understanding of the world."38

[37] Während Lula vorrangig von der diffusen Hoffnung auf das „Land hinter dem Regenbogen"39 zehrt, ist Sailors hilflose Reaktion auf die unverständliche Realität gegenständlicherer Natur. Seine Schlangenlederjacke ist, wie er selbst betont, „... ein Symbol meiner Individualität und meines Glaubens an die persönliche Freiheit."40 Ebenso ist seine Liebeserklärung an Lula dargebracht in Form einer Elvis Presley - Kopie, beiden Hauptfiguren ist gemeinsam, daß sie nichts originäres in Haltung und Äußerung an sich haben, was ihnen bleibt ist lediglich die Betonung des Zitats.

[38] Die Zersplitterung und Diffusion der Wirklichkeit findet ihren Ausdruck - ebenso wie in ,Blue Velvet' - auch in der optischen Gestaltung des Films: ,,A severed ear, a red, lipsticked - mouth, downcast eyes, a woman on the floor at the mercy of a man, a face and throat, vulnerable and exposed, and half and full body shots of semi-nude - males and females, and human body parts which literally float across the screen in slow motion during a robbery shootout all contribute to a sense of fragmentation of individual identity."41

[39] Lynch benutzt in ,Wild at Heart' eine Darstellungs- und Narrationsform, die der behandelten Thematik von Identitäts- und Kommunikationsproblemen entspricht, indem die einzelne Einstellung über den Gesamtzusammenhang hinausweist42 : ,,Nicht subtile räumlich-zeitliche Beziehungen der Erzählung, der zwischenmenschlichen Begegnung oder ihre psychologische Durchzeichnung zählen, sondern der kurze, visuell wie emotional ausgekostete Moment."43

[40] Im Zusammenhang dieser von Klischees und Illusionen bestimmten Identitäts- und Kommunikationsproblematik erhält auch der zunächst merkwürdig bis unsinnig erscheinende Schluß des Films seinen Sinn, der von dieser Warte aus betrachtet nur der (vorläufige) Endpunkt des kulturindustriellen Blendungszusammenhanges ist: ,,Daß ,Wild at Heart' nicht wie traditionelle Roadmovies (...) in einer kathartischen Katastrophe endet, sondern in einer märchenhaften Erscheinung, die alles zum Guten verkehrt, ist so nur logisch, insofern alle Aufhebung der beschworenen Gewalt eben nur eine (filmische) Illusion ist:"44

IV. Schlußbemerkung

[41] Sowohl die Identitäten der handelnden Figuren als auch ihre Kommunikation untereinander sind bei David Lynch nachhaltig gestört und verschoben.

[42] Wichtig ist, daß Lynchs Figuren nicht mehr eine Maske der Normalität tragen, hinter der etwas Fremdartiges oder das Wesen der Figuren verborgen ist, sondern daß im Gegenteil bereits das Offensichtliche die Problematik sichtlich macht. Hierzu Seeßlen: ,,Die Fassade verhüllt nicht mehr (...) den Wahn, sie ist bereits ,Sprache' des neurotischen Systems."45

[43] Lynchs Bestandsaufnahme der gegenwärtigen (westlichen) Gesellschaft zeigt die Konsequenzen der bereits von Horkheimer und Adorno in der ,Dialektik der Aufklärung’46 thematisierten modernen Kulturindustrie, die nicht nur die Kulturgüter, die Kunstwerke wesenhaft verändert, sondern auch die Menschen und deren Wahrnehmungsmechanismen. Daraus resultiert bei Lynch ein Gesellschaftsgefüge, das erzeugte Bedürfnisse scheinbar befriedigt: ,,Die Gesellschaft ist nicht mehr Sinn (...) sondern eine Agentur geworden, die mit Sinn handelt wie mit anderen Waren."47

[44] David Lynchs Filme ermöglichen aufgrund ihrer Selbstreflexion und Doppelbödigkeit eine kritische Haltung zum Erzählten und der Darstellungsart, ohne jedoch Auswege anbieten zu können; sie erweisen sich als Markierungen grundlegender gesellschaftlicher Strukturen, wobei jederzeit durchscheint, daß noch weitere, verdeckte Strukturen vorhanden sind beziehungsweise sein können: ,,In Lynchville sehen wir mehr als wir je zuvor gesehen haben, aber das Wesentliche zeigt sich immer als Markierung eines noch Wesentlicheren."48

V. Literaturverzeichnis

zitierte Literatur:

- Fischer, Robert: David Lynch, Wilhelm Heyne Verlag, München, 1992

- Kerkhoff, Ingrid und Rodenberg, Hans - Peter (Hrsg.): Leinwand-Träume. Film und Gesellschaft, Argument - Verlag, Hamburg, 1991

- Faulstich, Werner und Korte, Helmut (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte. Band 5, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 1995

- Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme, Schüren Verlag, Marburg, 1994

zusätzlich verwendete Literatur:

- Blumenberg, Hans - Christoph: Gegenschuß, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 1984

- Bordwell, David und Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction, McGraw - Hill, 1993

Fußnoten:

1 Blue Velvet, deutscher Titel: Blue Velvet, Regie: David Lynch, Produktion: De Laurentiis Entertainment Group, 1986
2 Wild at Heart, dt. T.: Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula, R.: Lynch, P.: Propaganda Films und Polygram, 1990
3 Rodenberg, Hans-Peter: Alte und neue Bauformen des Erzählens: Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula, in: Fischer Filmgeschichte, Band 5, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1995, Seite 258 f.
4 derselbe, Der amerikanische Film der 80er Jahre, in: Leinwandträume, hrsg. v. Ingrid Kerkhoff und Rodenberg, Argument-Verlag, Hamburg, 1991, S. 26
5 The Alphabet, R.: Lynch, P.: H. B. Wassermann, 1968
6 The Grandmother, R.: Lynch, P.: Lynch u. American Film Institute, 1970
7 Eraserhead, dt. T.: Eraserhead, R.: Lynch, P.: Lynch u. American Film Institute Center for Advanced Film Studies, 1977
8 Lynch, zitiert nach: Hoffmann, Kay: Das Konzept des Zeichners, in Film Dienst
9 Seeßlen, Georg: David Lynch und seine Filme, Schüren Verlag, Marburg, 1994, S. 37
10 ebenda, S. 143
11 The Elephant Man, dt. T.: Der Elefantenmensch, R.: Lynch, P.: Brooksfilm, 1980
12 Dune, dt. T.: Der Wüstenplanet, R.: Lynch, P.: Dino de Laurentiis, 1984
13 Seeßlen, S. 85
14 The Cowboy and the Frenchman, R.: Lynch, P.: Propaganda Films, 1989
15 Twin Peaks, dt. T.: Das Geheimnis von Twin Peaks u. Twin Peaks - Das Geheimnis geht weiter, R.: diverse, P.: Lynch / Frost Productions u. Propaganda Films, 1989 - 1991
16 Rodenberg, Alte und neue Bauformen des Erzählens, S. 258
17 Twin Peaks - Fire walk with me, dt. T.: Twin Peaks - der Film, R.: Lynch, P.: Twin Peaks Productions u. Ciby Pictures, 1992
18 direktes Zitat aus dem Soundtrack der deutschen Version von ‘Blue Velvet’
19 Ahlquist, Roberta: Film as Culture: The Portrayal of Gender and Psychopathological Projection in Lynch’s ‘Blue Velvet’ and ‘Wild at Heart’, in: Leinwandträume, hrsg. v. Kerkhoff u. Rodenberg, Argument-Verlag, Hamburg, 1991, S. 97
20 Fischer, Robert: David Lynch, Wilhelm Heyne Verlag, München, 1992, S. 124
21 direktes Zitat aus dem Soundtrack der deutschen Version von ‘Blue Velvet’
22 wie (21)
23 wie (21)
24 Seeßlen, S. 92 f.
25 Hoffmann, Kay: Das Konzept des Zeichners, in: Film-Dienst, 43. Jahrgang, Nr. 18 (September 1990)
26 direktes Zitat aus der deutschen Version des Soundtracks von ‘Blue Velvet’
27 wie (26)
28 direktes Zitat aus dem Original-Soundtrack von ‘Blue Velvet’
29 Seeßlen, S. 132
30 wie (29)
31 Rodenberg: Alte und neue Bauformen des Erzählens, S. 258
32 wie (31)
33 Seeßlen, S. 109
34 Seeßlen, S. 145
35 Rodenberg: Alte und neue Bauformen des Erzählens, S. 252
36 Fischer, S. 198
37 Seeßlen, S. 132
38 Ahlquist, S. 96
39 direktes Zitat aus der deutschen Version des Soundtracks von ‘Wild at Heart’
40 wie (39)
41 Ahlquist, S. 94
42 vgl. Seeßlen, S. 175 f.
43 Seeßlen, S. 252
44 Rodenberg: Alte und neue Bauformen des Erzählens, S. 251
45 Seeßlen, S. 11
46 Horkheimer, Max u. Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 1988; siehe Kapitel: Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug
47 Seeßlen, S. 132
48 Seeßlen, S.


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