This text has been submitted as an original contribution to cinetext on September 10, 2002. It is also available as PDF-document.
Film ist Wahrheit 24 mal in der Sekunde: Jim Jarmuschs Mystery Train als postmoderne Metapher
von Anne Haeming |
Vorwort
Ein Zugabteil. Schweigend in die Sitze gelümmelt ein rockig gestyltes japanisches Pärchen. Von links kämpft sich eine Vollblutamerikanerin durch den Gang, mit Koffern beladen und offensichtlich etwas gestresst. "Is this the train to Natchez?" Die Japanerin redet hektisch auf ihren Freund ein und bedeutet ihm, sein Feuerzeug auszupacken. Sie signalisiert der Amerikanerin, dass sie verstanden habe: "Yes, matches, yes, please." Als der Fragenden eine Flamme ins zigarettenlose Gesicht gehalten wird, erkundigt sich diese nochmals nach dem Zug nach Natchez, gibt aber dann auf. "Its ok." Ein Missverständnis als Filmende? Eher ein programmatisches Kondensat der vorangegangenen 110 Minuten. Der phonetische Verhörer am Ende von Jim Jarmuschs Mystery Train enthält, was der Film als Ganzes vor dem Zuschauer ausbreitet. Was zwischen Stadt und Zündhölzern, zwischen Natchez und Matches liegt, ist eine in der Schwebe gehaltene Unbestimmtheit. Der Schlußdialog wie auch Jarmuschs Film sind zu verstehen als Fingerzeig auf das Dazwischen, das das undefinierbare Potential zur Sinnkonstitution beherbergt. "I like the spaces that happen between things, even between dialogue. Sometimes thats a lot more meaningful than the dialogue itself."1, sagte Jim Jarmusch einmal in einem Interview. In der Tat: Das Dazwischen ist ein Element, das für sein gesamtes Werk signifikant ist. Variationen dieses Themas tauchen in Coffee and Cigarettes genauso auf wie in seinem letzten Film, Ghost Dog.
Eine weitere Konstante seines Schaffens ist das Aufeinanderprallen und Ineinanderwirken verschiedener Kulturen. Die Differenz zwischen Fremdem und Eigenem taucht immer wieder in Jarmuschs Versionen vom Melting Pot USA auf - "The only beautiful thing about America is cross-pollination of cultures"2, so der Filmemacher. Gleichzeitig sieht er sich der Tendenz des weißen Amerika gegenüber, alles aus weißer Perspektive zu beurteilen und auf diese Weise in einem Zustand totaler Selbstverleugnung zu verharren.3 In diesen Zusammenhang gehört auch, daß sich Jim Jarmusch der Hollywood-Maschinerie bewußt widersetzt. Als Teil der Independent-Film Szene will er sich dem Diktat des Geldes und damit dem der Produzenten entziehen. Er ist Drehbuchautor und Regisseur in Personalunion und kann so seine Filme von Anfang bis Ende selbst bestimmen: "Hollywood is about power, money, and status - and its not my religion."4
Jarmuschs Werke können demnach als Versuche angesehen werden, gegen das Beharren auf bipolaren Strukturen anzufilmen. Sie postulieren kulturelle Diversität. Sie stehen für den Drang, existierende Hierarchien und gesellschaftliche Dichotomien aufzubrechen.
Auch Mystery Train von 1989 steht in dieser Tradition, ist ein Paradebeispiel für Jarmuschs Produktionen mit polykulturellem Gehalt. Als besonders fruchtbar in diesem Zusammenhang erweist sich Homi Bhabhas Theorie des time-lag. Er beschreibt dieses Konzept als den Raum, wo "the contingent is contiguity, metonymy, the touching of spatial boundaries at a tangent, and, at the same time, the contingent is the temporality of the indeterminate and the undecidable."5 In dieser Beschreibung des zufälligen Überlappens der Welt der Zeichen und der der Symbole ist alles enthalten, was Bhabhas time-lag ausmacht. Gleichzeitig paßt dieser Satz auch auf Jarmuschs Mystery Train. Dieser Film ist zu verstehen als »filmizierter« time-lag; darüber hinaus präsentiert er sich als Netzwerk sich ständig überschneidender Zeichensysteme - Intertexte aller Ebenen konstruieren diesen Film.
Schauplatz ist Memphis, Tennessee, die Stadt des King of RocknRoll. Hier im Arcade Hotel überkreuzen sich die drei Episoden des Films. Im Lauf der Filmerzählung ent-decken sich Strukturen, die die drei nacheinander erzählten Teile miteinander verbinden, vor allem aber, daß alles gleichzeitig stattfindet.
Far From Yokohama ist die erste Geschichte. Jun und Mitsuko, ein junges japanisches Pärchen, machen einen Sightseeing-Trip in die Stadt des Rock, auf den Spuren von Elvis, Graceland und den Sun Studios. Sie kommen zufällig am Arcade Hotel vorbei und checken ins Zimmer Nr. 27 ein. Nachts, nachdem sie miteinander geschlafen haben, hören sie im Radio den Elvis-Song Blue Moon. Am nächsten Morgen beim Kofferpacken hören sie einen Schuß.
In der zweiten Geschichte, A Ghost, strandet die Italienerin Luisa am Flughafen - der nächste Flug, der sie und ihren verstorbenen Mann nach Rom bringen wird, geht erst am folgenden Tag. Sie zieht ziellos umher, begegnet einem Kauz, der ihr eine Elvis-Geschichte und des Kings Kamm verkauft. Zufällig kommt sie am Arcade vorbei, dort trifft sie Dee Dee, die gerade ihren Freund verlassen hat und für eine Nacht eine Bleibe sucht. Sie nehmen sich zusammen ein Zimmer - die Nr. 25. Durch die Wand dringen Geräusche von nebenan, im Radio läuft Elvis Blue Moon. Luisa erscheint eine Halluzination: Sie sieht Elvis vor ihrem Bett stehen. Bevor sie am nächsten Morgen das Hotelzimmer verlassen, hören sie einen Schuß.
Die letzte Episode heißt Lost in Space. Johnny, ein Brite, den alle Elvis nennen, hat einen Pechtag hinter sich: Er hat Job und Freundin verloren. Jetzt sitzt er in seiner Stammkneipe, betrinkt sich, zieht auf einmal eine Pistole hervor. Sein Kumpel Will und sein Quasi-Schwager Charlie überreden ihn, eine Runde mit dem Truck zu drehen. In einem Liquor-Store erschießt Johnny den Verkäufer, weil dieser Will beschimpft hat: Schwarze dürfe man nicht aus den Augen lassen, weil sie sofort lange Finger machten. Auf der Flucht durch die Stadt hören sie im Radio Blue Moon von Elvis. Schließlich landen die drei im Arcade: Der Portier ist Wills Schwager. In Zimmer Nr. 22 können sie sich für die Nacht verstecken. Am nächsten Morgen will sich Johnny erschießen, es kommt zu einem Handgemenge, währenddessen sich ein Schuß löst.
Die drei ineinander verwobenen Handlungsstränge legen bloß, was den Film im innersten zusammenhält: zufällig erscheinende Überlappungen einerseits und schwarze Löcher, deren Boden man nicht erblicken kann andererseits. Diese beiden Aspekte bilden den Grundstock einer theoretischen Verschränkung von Bhabhas time-lag und Kristevas Konzept der Intertextualität.
Begibt man sich also von der filminherenten Ebene auf die übergeordnete postmoderner Theorien, so erscheint die Unbegreiflichkeit der "spaces between", wie Jarmusch es nennt, auch hier zentral - einmal als das Moment von Überschneidungen, einmal als ein obskurer Zwischenbereich.
Homi Bhabhas Time-Lag
Indem die sogenannte postmoderne Welt begriffen wird als Nebeneinander verschiedener Kulturen, Überzeugungen und Glauben, muß Abschied genommen werden von streng bipolar ausgerichteten Weltanschauungen. Es gilt vielmehr, letztere zu überwinden, die Gegensätze miteinander zu versöhnen - Fazit der Postmoderne ist jedoch, daß eine solche Versöhnung nicht möglich ist. Gleichzeitig ist es jedoch genau diese Unmöglichkeit, die als größte Chance gesehen wird, herrschende Hierarchien zu subvertieren. Der Erkenntnis und Akzeptanz der Unmöglichkeit muß jedoch eines notwendig vorausgehen: Die Subversion ist nur denkbar als Prozeß, als unaufhörlicher Akt, die starren Pole zu überwinden.
Auf allgemeinster Ebene geht es postmodernen Ansätzen um den Versuch "to construct modes of political and cultural agency that are commensurate with historical conjunctures where populations are culturally diverse, racially and ethnically divided - the objects of social, racial, and sexual discrimination"6, so Bhabha. Von dieser umfassenden Kategorie ausgehend sind alle Bereiche betroffen, in denen jene gesellschaftlich-kulturellen Aspekte ihren Niederschlag finden. Anders ausgedrückt: Als Subkategorie dürfte Kunst im weitesten Sinne - Literatur, Malerei, Bildhauerei, Film, Photographie, Musik - als Produkt und Spiegel sozio-kultureller Situationen gelten. Daraus folgt, daß auch die Einheiten, die die einzelnen kulturellen Produkte konstituieren, dem Postulat der Postmoderne unterliegen: Worte, Buchstaben, Formen - kurz: die Signifikanten.
Was auf allgemeinster gesellschaftlicher Ebene im Argen ist, spiegelt sich quasi als mise-en-abyme auf Sprachebene. Die Sprachmetapher scheint ideal, um die Entstehung postmoderner Subjekte zu beschreiben: Automatisch sind die Unbestimmtheit des Schreibens, die Willkür des Zeichens, die Teilung des sprechenden Subjekts impliziert. Auch Bhabha verfolgt in seiner Theorie den kleinsten gemeinsamen Nenner: die Zeichen. Sein Augenmerk gilt "the moment of culture caught in an aporetic, contingent position, in-between a plurality of practices that are different and yet must occupy the same space of adjudication and articulation".7
Obwohl Postmoderne qua Programm sich jeder Definition widersetzt und widersetzen sollte, ist es vielleicht hilfreich, an dieser Stelle eine Art Merkmalreihe aufzuführen. Diese von Ihab Hassan zusammengetragenen Charakteristika beinhalten in sich die bereits ausgeführten Determinanten, gleichzeitig stehen die einzelnen Merkmale in einem komplementären, keinem substitutiven Verhältnis. Hassan unterscheidet elf Punkte: 1. Unbestimmtheit, 2. Fragmentarisierung, 3. Auflösung des Kanons, 4. Verlust von "Ich" und "Tiefe", 5. Das Nicht-Zeigbare, Nicht-Darstellbare, 6. Ironie, 7. Hybridisierung, 8. Karnevalisierung, 9. Performanz, Teilnahme, 10. Konstruktcharakter, 11. Immanenz.8 Dieser Katalog soll in erster Linie als Hintergrund gelten, auf einzelne Punkte wird vor allem bei der Analyse von Mystery Train näher einzugehen sein.
Die Bezeichnungen der elf Punkte implizieren, daß auch hier das Moment des Dazwischen die entscheidende Rolle spielt: Es ist im Nicht-Darstellbaren genauso enthalten wie in der Unbestimmtheit oder der Auflösung des Kanons. Kurz: Es ist jenes "in-between", das die temporäre Auflösung der Dichotomien begrifflich umfaßt. Die Distanz zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen als Teil kultureller Binarität wird also ersetzt durch den Prozeß der "enunciation".9 Gleichzeitig entzieht sich dieses Zwischenreich jeglicher Definition, muß vielmehr auf seiner Nicht-Darstellbarkeit beharren - als Existenzbedingung.
Der logische nächste Schritt in Bhabhas Argumentation betont die zwingende Abkehr von Definitionen: An die Stelle bloßer Beschreibung kultureller Elemente tritt ein hybrider, dritter Bereich, der die existenten Dualitäten nicht korrigiert oder umdreht. Stattdessen werden die ideologischen Grundlagen einer bipolaren Weltsicht im Sprechakt oder im "writing aloud" selbst neu bewertet.10
Sprechakt, "writing aloud", Artikulation oder "enunciation" - diese Begriffe verweisen direkt auf das Verhältnis zwischen sprechendem Objekt und rezipierendem Subjekt, zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen sign und symbol. Auch hier stehen sich wieder zwei entgegengesetzte, klar definierte Pole gegenüber. Nur indem jener dritte, nicht zu fassende Zwischenbereich evoziert wird, kann das System starrer Dichotomien aufgebrochen werden: Die Lösung kann folglich nur in etwas Prozessuralem liegen, der Artikulation der Signifikanten. Bhabha meint dazu: "It is the ambivalence and liminality enacted in the enunciative present of human articulation that results in the signs and symbols of cultural difference being conjugated [...] through the interactive temporality of signification."11
In seinem Gebrauch der Begriffe sign and symbol rekurriert Bhabha auf die Definition Lacans. In "What is speech? What is language?" stellt letzterer die vollkommen neutrale und objektive Welt der Zeichen der der Symbole gegenüber. Jene wiederum sind per se nicht neutral, sind sie doch die subjektiv generierte Ausdifferenzierung der Zeichen.12 Anders ausgedrückt: Symbole sind hier zu sehen als das Produkt individueller Rezeption von Zeichen. Entscheidend ist, daß einem Zeichen eine unbestimmbare Anzahl Symbole gegenüber steht: Die unterschiedlichen Dispositionen der Subjekte bedingen, daß aus der Interaktion zwischen Individuen und einem gegebenem Signifikanten unterschiedliche Sinnkonstitutionen hervorgehen.
Bhabha richtet sein Augenmerk auf das Moment, in dem sich die Sinnkonstitution vollzieht. Dieses Moment befindet sich zeitlich nach dem Bereich des reinen, objektiven Zeichens und vor dem rein subjektiven Wahrnehmungsprodukt. Wie die Begriffe Moment und Bereich bereits andeuten, kollidieren hier räumliche und temporale Strukturen. Bhabha versucht dieses Dazwischen zu umfassen, indem er es als "interruptive overlap"13 bezeichnet. Wie sich bereits angedeutet hat, kombiniert er mit dem Konzept des time-lag die Vorstellung von Raum und Zeit; besonders für einen Film wie Mystery Train, der Zeit- und Raumebenen kunstvoll ineinander verschränkt, ergeben sich daraus spannende Einsichten. Doch dazu später.
Egal ob man das Wort time-lag in seinen Einzelbestandteilen betrachtet oder als ganzes: Beides läßt sich auf das Gesamtkonzept zurückführen. Nimmt man die Einzelteile Zeit und Lücke, findet sich die Idee von Raum und Zeit wieder, vor allem aber die Vorstellung eines Zwischenbereiches. Dem gegenüber steht die wörtliche Übersetzung: time-lag bedeutet Verzögerung. Entscheidend ist der Rückschluß auf die Verwandlung von Signifikant in Signifikat. Davon ausgehend ist es sinnvoll, den Akt der Verwandlung, das Moment des time-lag, als Hinauszögern der Sinnkonstitution zu verstehen. In diesem Ausdehnen enthalten sind alle potentiellen Symbole des einen Zeichens. Dieser Zustand gleicht einer Ursuppe, in der alle Möglichkeiten zunächst gleichzeitig und nebeneinander vorhanden sind. Erst daraus kann sich für jedes Subjekt eine individuelle Lesart ausdifferenzieren:
"This opens up a spatial movement of cultural representation which I shall call a time-lag: an iterative, interrogative space produced in the interruptive overlap between symbol and sign, between synchronicity and caesura or seizure (not diachronicity)."14
Wichtig ist, daß sowohl der zeitliche wie räumliche Rahmen des time-lag nicht zu fassen ist. Das zufallsgenerierte Neben- und Übereinander der Symbole kann ausschließlich verstanden werden als Jetzt. Und Jetzt. Und Jetzt. Es ist am ehesten zu fassen als der Akt der Wahrnehmung selbst, der Takt des Präsens. Nur im Momentum des time-lag sind die Dichotomien aufgehoben, nur dort kollidieren alle Wahrheiten und bilden zusammen eine Art heterogene Über-Wahrheit.
Egal welche Kategorie man ins Auge faßt - ob man auf der rein semiotischen Ebene der Zeichen bleibt oder ob man diese als Metapher benutzt, um die (Selbst-)Wahrnehmung postmoderner und -kolonialer Subjekte zu analysieren - so muß das Konzept des time-lag etwas genauer analysiert werden.
Geht man zum einen davon aus, daß ein Symbol nur als Reaktion auf ein bestimmtes Zeichen hervorgerufen werden kann und zum anderen, daß alle so generierbaren Symbole im Augenblick des time-lag gleichermaßen vorhanden sind, könnte man von einer Identität zwischen Zeichen und Symbol im time-lag sprechen. Doch dem ist nicht so, "[f]or identification, identity is never an a priori, nor a finished product; it is only ever the problematic process of access to an image of totality".15
Der Grund für die letztlich unerreichbare Einheit ist in der Natur des Zeichens zu suchen. Das Zeichen als Bezeichnendes ist per definitionem nur das Abbild des Bezeichneten, also nicht identisch mit dem Original. Daraus folgt, daß dieser Signifikant das im Hier und Jetzt nicht vorhandene Objekt repräsentiert: Er ist das anwesende Abwesende. An dieser Stelle machen sich Raum- und Zeitdimension erneut bewußt. Mit Bhabhas Worten: "[...] The image - as point of identification - marks the site of an ambivalence. Its representation is always spatially split - it makes present something absent - and temporally deferred: it is the representation of a time that is always elsewhere, a repetition."16
Folglich impliziert jeder Wahrnehmungsprozeß stets einen reziproken Zusammenhang: Produktion auf der einen, Rezeption auf der anderen Seite. Die Realität als Welt der Symbole wird übersetzt in Zeichen - Platzhalter für die Originale. Diese wiederum werden qua Wahrnehmung wieder zurückgeführt in einen Bereich der Signifikate, der mit der Ausgangsrealität zwangsläufig nicht identisch sein kann.
Das Verhältnis des subjektiv ausdifferenzierten Symbols zum ersten »Beweger«, also dem Original und darauf folgend dem Zeichen, kann nur im Rückblick erfolgen. Erst nachdem ein Symbol aus der mäandernden Mélange aufgetaucht und somit die Wahrnehmung abgeschlossen ist, kann sich das Subjekt im Verhältnis zu seiner Umgebung verorten. Denn während des Rezeptionsakts, im absoluten Präsens, sind - wie bereits beschrieben - die Raum- und Zeitverhältnisse aufgehoben. Es läßt sich also feststellen, daß Produktion und Rezeption - und somit auch Zeichen und Symbol - chronologisch verbunden sind, daß das eine auf das andere folgt.
Intertextualität: Julia Kristeva
Für Bhabhas "space between" findet sich im Konzept der Intertextualität ein höchst spannender Gegenpart. Der Begriff der intertextualité wurde ursprünglich von Julia Kristeva in den Diskurs eingeführt. Er ist zu verstehen als Weiterentwicklung von Bahktins Konzept des dialogism. Bakhtin beschränkt seine Idee des dialogism auf Literatur: Er begreift jeden Text als Kreuzung, Überschneidung, Verschränkung verschiedenster »textueller Oberflächen«.17 Daraus ergibt sich eine absolute Offenheit, also eine unmögliche Begrenzung eines gegebenen Textes. Auf einmal haben wir es nicht mehr mit einem homogenen, geschlossenen System zu tun. Vielmehr eröffnet sich ab da jeder Text als heterogen-polyphone Pluralität. Denn jeder Text verweist implizit und explizit auf ihm vorangegangene, andere Textsysteme, ja inkorporiert sie in das eigene Zeichensystem.
An dieser Stelle weitet Kristeva den dialogism zur Intertextualität aus. Es gehe ihr nicht nur um die Ebene der Sinnkonstitution sondern auch um die phonetischen, syntaktischen und semantischen Zusammenhänge, sagt sie in einem Interview.18 In Die Revolution der poetischen Sprache definiert sie Intertextualität als "Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen". Wichtig hierbei ist, daß die thetische Setzung des einen aufgelöst und ein neues gebildet wird. In anderen Worten: Das bestehende Netzwerk der Signifikanten hört in seiner Disposition auf zu existieren, sobald es mit einem externen Zeichensystem in Kontakt kommt. Daraufhin ordnen sich die Zeichen gewissermaßen neu, da ein weiteres Relationsobjekt hinzugekommen ist. Das bestehende erfährt eine Transformation in ein drittes System.
Wieder stellt sich der Prozeß als Chronologie dar: "Übergang zu einer Triebstelle, die beide Systeme vermittelt, und Artikulation des neuen Systems mit einer neuen Darstellbarkeit."20
Auch hier ist ein Blick auf das Verhältnis von Zeichen und Symbol unumgänglich:
Begreift man nach wie vor das Zeichen als anwesendes Abwesendes, so wird notwendig jedes externe, zuvor existente Zeichensystem zu einem Meta-Zeichen, trifft es auf ein anderes Zeichensystem. Denn dort, in diesem »neueren« Zeichensystem, wird das erste System zum anwesenden Abwesenden - zum Zeichen. Durch die Transposition wird das frühere Zeichensystem zum Original, das mimetisch als Signifikant in den neu produzierten Zusammenhängen wiedergegeben wird.
Indem sich die beiden in sich komplexen Texte quasi zufällig überschneiden und in etwas Drittem zusammen aufgehen, entstehen multiple Verweise. Sinn wird durch mehrere Instanzen hindurch konstitutiert.
Für den Produktions- wie Rezeptionsprozeß haben diese Annahmen vergleichbare Konsequenzen. Sowohl der Produzent als auch der Rezipient, also in unserem Falle Filmemacher und Zuschauer, können ohne Not als Autor, als Urheber im eigentlichen Sinne verstanden werden. Beide sind Urheber der eigenen Lesart dieser Kakophonie von Texten; beide werden andere Zeichensysteme in dem einen enthalten entdecken. Im bewußten wie unbewußten Entdecken - also der Transformation eines Zeichens in ein Symbol - befinden sie sich "at the intersection of this plurality of texts on their very different levels [...]," so Kristeva. Weiter sagt sie: "This leads me to understand creative subjectivity as a kaleidoscope, a 'polyphony' as Bakhtin calls it" (ihre Hervorhebung).21 Diese plurale Identität des Texts spiegelt sich demnach auch im Urheber des pluralen Texts wider: Rezipient und Poduzent erfahren sich als dynamische Subjekte oder, um Kristevas Ausdruck zu gebrauchen, als subject-in-process.22
Mit dem Bild des stets im Fluxus befindlichen Subjekts läßt sich die Idee einer grundlegend heterogenen, anti-hierarchischen Welt überzeugend darstellen. Das self ist demnach "the historically and discursively constructed melange of responses and perceptions through which any one of us experiences life as a member of some social or cultural collectivity".23 Daraus ergibt sich: Wie sich das Subjekt zu den Sinnesreizen der Welt in Beziehung setzt, so nimmt es die Welt wahr - wie sich das Subjekt zu den Sinnesreizen der Welt in Beziehung gesetzt sieht, so nimmt es sich selbst wahr. Begreift das Individuum diesen Bezug als durch und durch dynamisch, wird es weder sich selbst noch die Welt als einheitlich, homogen und definierbar erkennen. Der »trigger« dieser Erkenntnis kann der Blick in den Spiegel, das Reflektieren über sich selbst, aber eben auch der Akt des Lesens oder Betrachtens sein. Der Moment der Erkenntnis liegt im time-lag begründet; also in dem Moment, in dem sich der Prozeß vom Zeichen zum Symbol vollzieht, wenn Realität und Abbild nebeneinander existieren.
Daß dieses Konzept über rein literarische Texte hinausweist, liegt auf der Hand. Begreift man Film als Zeichensystem, so läßt sich die Idee der Intertextualität ebenso fruchtbar auf das System der bewegten Bilder anwenden. Lesen ist, sich als wandernden Punkt inmitten des Textes zu begreifen, nicht in der Lage, das gesamte Zeichensystem des Buches auf einmal zu erfassen. Auch der Film wird im Sehen gelesen, der Rezipient befindet sich stets vom Text Film umgeben, ist für ihn doch immer nur das Jetzt wahrnehmbar.
Das Betrachten eines Films entspricht folglich auf ideale Weise dem Moment des time-lag. Auch wenn Signifikanten in verschiedensten Ausformungen im Filmkontext auftauchen, läßt sich ein anschauliches Beispiel für diese kleinste Zeicheneinheit finden: das einzelne Bild, das beim Abspielen das Laufen lernt. Genauer: Das Überlappen von Zeichen und davon abhängigen Signifikaten ist vergleichbar mit dem, was zwischen den Einzelbildern passiert. Der kleine schwarze Strich, der das eine vom anderen trennt, ist eine Leerstelle. In diesen Zusammenhang paßt auch das oft bemühte Godard-Zitat, in dem er sagt, Film sei Wahrheit 24 Mal in der Sekunde.
Auf der Suche nach dieser Wahrheit befindet sich der menschliche Geist, eine Wahrheit, "die sich ihm beständig entzieht und ihm nichts läßt als einen ironischen Zugang dazu, oder aber ein exzessives sich seiner selbst bewußt sein" (sic!).24 Da Wahrheit allein in dem hybriden Ursuppen-Konglomerat des Dazwischen liegt, strebt das Subjekt nach diesem Dazwischen. Konsequenz ist: Das Subjekt muß sich beständig als wahrnehmendes begreifen; es ist immer in einem dynamischen Prozeß begriffen, in welchem es ein gegebenes Signifikant in ein Signifikat umwandelt. "Natur wird zu Kultur und Kultur zu einem immanenten semiotischen Sytem", so Hassan. "Dies ist die Zeit des Menschen als sprachliches Wesen, sein Maß ist die Intertextualität allen Lebens."25
Daraus läßt sich schließen, daß Intertextualität gleichsam eine Variante von Selbstreflexivität ist. Auf der einen Seite konfligierende Referenzen innerhalb eines Textes, auf der anderen Seite das Bewußtmachen des Aufeinanderprallens von Zeichen und Symbol. Dadurch reflektiert der Text quasi über sich selbst, offenbart sich in seiner Konstruiertheit. Im weitesten Sinne also ist Selbstreflexivität zu verstehen als Selbstbespiegelung, als "process by which texts foreground their own production, their authorship, their intertextual influences, their textual processes, or their reception".26
Wenn ein Film im Film auf ein anderes Zeichensystem verweist, so durchbricht das Moment des Überlappens der beiden Texte die Oberfläche des Zeichensystems. Ein Bezug zwischen dem einen und dem früheren Zeichensystem wird generiert, es entsteht ein Relationsverhältnis. Der Film als Zeichensystem macht sich als das bewußt, was es ist: ein konstruiertes Abbild der Realität.
Der Terminus Selbstreflexivität kann nur als komplexer Sammelbegriff verstanden werden. Im Film-Kontext tauchen die diversen Unterkategorien in verschiedenster Form auf, wobei natürlich allen eines gemeinsam ist: Das sich selbst als Film bewußt Machen; auf diese Weise wird der Rezipient zu bewußten Transpositionen gezwungen - die Brüche offenbaren ihm das Dazwischen. Sei es, daß der Film auf die eigene Entstehung und Geschichte hinweist (Kamera im Bild, Story über Geschichte des Films) oder sich in seiner Materialität, also Künstlichkeit, offenbart (Schiebeblende, ungewöhnliche Kameraeinstellungen). All das kann auch aus der Perspektive der Intertextualität verstanden werden: Die Zeichensysteme, auf die verwiesen wird, sind dann beispielsweise thematisch, geographisch oder zeitlich distanzierte Filmentitäten. Mittels Codes werden diese entfernten Systeme (Genres, Epochen, national begrenzte Stile o.ä.) in ein neues Zeichensystem integriert.
Das filmimmanente Stilmittel der Selbstreflexivität funktioniert natürlich nur, wenn der Rezipient die Momente der Überschneidung realisiert.
Mystery Train als Metapher für Time-Lag
Generell soll hier das Augenmerk auf der intratextuellen Variante von Intertextualität liegen, also die Verknüpfungen innerhalb von Mystery Train betrachtet werden. Allerdings ist es kein Fehler, zunächst auf Aspekte einzugehen, die eindeutig über den gegebenen Filmtext hinaus verweisen und quasi transtextuelle intertextuelle Referenzen sind, um bei der Begrifflichkeit zu bleiben.
Hinsichtlich eines Punktes ist Mystery Train nicht nur transtextuell sondern gewissermaßen auch transmedial. Der Film aus dem Jahr 1989 wird oft beschrieben als "a modern minimalists version of the Canterbury Tales"27 Bei Chaucer stranden Pilger in einer Herberge, laufen sich also zufällig über den Weg. Die einzelnen Charaktere erzählen Geschichten, um sich die Zeit zu vertreiben. Auch bei Jarmusch stranden unterschiedliche Menschen mitsamt ihren Geschichten in einer Herberge. Ein weit eindeutigerer Verweis auf Geoffrey Chaucer als der rein inhaltliche taucht als Straßenschild auf: In der ersten Episode laufen Jun und Mitsuko auf ihrer Suche nach Graceland durch die Chaucer Street.
Ein weiterer transtextueller Aspekt verweist auf Jarmuschs bisheriges Oeuvre; wenn man will, kann man dies als eine Form der Selbstreflexivität sehen. Wie in Stranger Than Paradise und Down by Law spielen befreundete Musiker mit. Tom Waits taucht lediglich mit seiner Stimme auf: als Radioansager des Songtitels Blue Moon. Screamin Jay Hawkins, der in Stranger Than Paradise nur zu hören war, übernimmt die Rolle eines der Portiers; Joe Strummer von The Clash spielt Johnny.
Sehr interessant ist der Fall von celebrity intertextuality, die Stam mit Verweis auf Genette beschreibt als "filmic situations where the presence of a film or television star or celebrity intellectual evokes a genre or cultural milieu".28 Hier ist dieser Star eindeutig Elvis. Nicht nur ist der Filmtitel selbst ein Verweis auf einen Song des King, spielt der Film in Memphis, sind in allen Räumen des Arcade Elvis-Portraits an den Wänden, darüber hinaus wird er in jeder Episode selbst thematisiert. Es läßt sich daher feststellen, daß die Person Elvis zu einem reinen Zeichen degradiert wurde: Er ist eine Marke, die für »King of Rock« steht.
Dieses Zeichen wird gewissermaßen vom Film gelesen und von jedem der lesenden Subjekte - also den Episoden - in Signifikate transformiert. Denn in jedem der drei Teile taucht die Marke Elvis anders auf. Erst danach kommt der Zuschauer als Rezipient ins Spiel, der natürlich alles wieder als Signifikanten wahrnimmt.
In Far From Yokohama ist Elvis der Heilige Star. Schließlich ist er der Grund, warum Jun und Mitsuko in die Stadt gekommen sind. Schon allein die Aufmachung Juns läßt keinen Zweifel zu: Die rockige Lederjacke, die sorgfältig gepflegte Schmalztolle verraten, wer sein Gott ist, doch natürlich sind Carl Perkins und Sonny Rollins nicht minder wichtig. Mitsuko hat ein Notizbuch, in dem sie Elvis-Portraits denen anderer Berühmtheiten gegenüberstellt. Ihre wichtige Entdeckung: Elvis ist in Madonna, ist in der Statue of Liberty, sogar eine alte Buddhastatue ist eindeutig Elvis. Dieses Vergleichsspiel kann verstanden werden als Metapher für den Akt der Interpretation schlechthin: Inwieweit sind die aus Zeichen hervorgegangenen Signifikate legitim?
Die zweite Geschichte behandelt Elvis eher distanziert. Die Legende erscheint buchstäblich als Legende. Luisa wird in einem Diner von einem Unbekannten mit einer haarsträubenden Lügengeschichte belästigt: Er habe Elvis als Anhalter mitgenommen, der auf dem Weg nach Graceland war. Um ihn loszuwerden, kauft Luisa ihm Elvis angeblichen Kamm ab. Später erzählt sie die Geschichte Dee Dee - es stellt sich heraus, daß Luisa auf eine memphis-spezifische Touristenfalle hereingefallen ist. Der Titel der Episode A Ghost spannt ebenfalls den Bogen von der Diner-Begegnung zu der Nacht im Hotel. Während der Unbekannte Luisa gegenüber sitzt, gibt es einen kurzen Schnitt auf die Zeitung auf dem Tisch. Die Schlagzeile lautet: "Ghost haunts Graceland". Dieser Geist erscheint Luisa dann beim Einschlafen, im Radio läuft Blue Moon. Der Zuschauer bekommt ihren Blick auf das Elvis-Bild an der Wand gegenüber präsentiert, Schnitt zurück auf Luisa, Schnitt zurück auf das Fußende des Betts. Dort steht Elvis. Während der Zuschauer die Halluzination des transparenten King teilt, bekommt Dee Dee nichts davon mit. Auch hier ist die Problematik von Interpretation Thema. Beziehungsweise: Wie weit darf man seiner Vorstellungskraft vertrauen, wenn sie verschiedene Zeichen (Schlagzeile, Geschichte, Song, Portrait) miteinander verknüpft, um Sinn zu generieren?
In Lost in Space wiederum wird die Figur Elvis sehr stark auf ihren Markenartikel-Wert kondensiert. Johnnys Spitzname ist Elvis - was er gar nicht leiden kann ("Dont call me Elvis!"). Er habe schließlich nichts mit Elvis gemein. Auch im Hotel taucht der Sänger wieder auf. Zwar lehnt diesmal nur eine ziemlich heruntergekommene Version des Portraits an der Wand, doch sie ist sofort Anlaß einer Diskussion. Johnny-Elvis fühlt sich von dem »Typen« verfolgt und fragt sich, wieso in einer genuin schwarzen Gegend, in einem von Schwarzen geführten Hotel nicht Otis Redding oder Martin Luther King an der Wand hängen. An dieser Stelle offenbart sich eine andere Dimension des Zeichens Elvis. Eine Kluft tut sich auf zwischen weißer und schwarzer amerikanischer Kultur, die Helden der einen sind nicht unbedingt die der anderen. Als Außenseiter nimmt der Brite Johnny die Mittlerrolle ein, indem er Markenprodukte der anderen Seite Elvis gegenüber stellt.
Diese letzte Version der celebrity intertextuality macht deutlich, was für den Gesamtzusammenhang der drei Elvis-Auftritte gelten kann: Die Übersetzung eines Zeichens in ein Symbol ist abhängig von der Perspektive und somit vom rezipierenden Individuum. Folglich müssen die drei Episoden als (mindestens) drei Lesarten des Signifikant gewordenen Namens »Elvis« verstanden werden.
Um die werkimmanente Intertextualität von Mystery Train hinreichend aufzeigen zu können, müssen einige Grundannahmen als gegeben gelten.
Wichtig ist, daß alle drei Episoden Spuren auslegen, die der Zuschauer erst sukzessive als solche erkennt und auf diese Weise die einzelnen Geschichten miteinander verknüpfen kann. Anders ausgedrückt: Im Zeichensystem des Gesamtfilms gibt es Signifikanten, die intertextuelle Verbindungen zwischen den Einzelsystemen herstellen.
Zunächst bietet es sich an, die drei Geschichten als in sich geschlossene Zeichensysteme zu verstehen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Verweise und Zitate zwischen den Einheiten unter dem Gesichtspunkt der Intertextualität zu beleuchten. Essentiell ist, daß die Chronologie der Filmteile beachtet wird - wie bereits erläutert ist der Aspekt der Retrospektive Dreh- und Angelpunkt für Produktion wie Rezeption von Bakhtins dialogism. Bhabha formuliert diesen Aspekt folgendermaßen: "The time-lag between the event of the sign [...] and its discursive eventuality [...] exemplifies a process where intentionality is negotiated retrospectively."29
Auf Story- wie auf kinematographischer Ebene gilt es aufzuzeigen, wie Intertextualität den Moment der contingency repräsentiert; und auch, wie sich daraus die Fragmentarisierung, die Zersplitterung der Welt für das subject-in-process darstellt.
Der grundlegendste Punkt, in dem sich die drei Filmteile überlappen, besteht in der temporalen wie räumlichen Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Dreimal wird annähernd der gleiche Zeitraum beschrieben, den unterschiedliche Personen-Gruppen in derselben Stadt erleben; kondensiert wird diese Synchronität, als sich alle im selben Hotel befinden.
Die »Sekunde«, in der eine Verbindung zwischen den drei Zeichensystemen bewußt wird, kann sich notwendig erst während und nach dem zweiten Teil zum ersten Mal andeuten. Verifiziert wird diese Annahme jedoch erst im Verlauf und nach der letzten Episode, wenn ob der Distanz ein Gesamtüberblick möglich ist.
Was die inhaltlichen intertextuellen Überlappungen angeht, so sind die auffälligsten anwesende Abwesende par excellence: Geräusche.
Das erste Beispiel ist der Song Blue Moon - in allen Episoden hören die Charaktere diese Elvis-Melodie im Radio. Eingebettet ist das Lied in eine Anmoderation und die Zeitangabe: 2.17 Uhr. Anhand dieser Eckdaten läßt sich konstruieren, daß die Handlungen parallel zueinander verlaufen, daß alle gleichzeitig das Lied hören. Für den Rezpienten ergibt sich allerdings auch die Möglichkeit festzustellen, daß das Radio zu unterschiedlichen Zeiten angemacht wird. Es mögen nur Sekunden Differenz sein, dennoch wird deutlich, daß die simultane Binnenhandlung (das Lied Blue Moon Anhören) in differierende Kontexte eingebettet ist. Juno und Mitsuko haben gerade miteinander geschlafen, als sie das Radio anmachen; Luisa und Dee Dee schalten ein, nachdem sie aus dem Nebenzimmer wohliges Stöhnen gehört haben und bevor Luisa Elvis Geist halluziniert; Charlie, Johnny und Will kreuzen auf der Flucht vor der Polizei durch die Stadt, als im Autoradio Blue Moon läuft.
Das andere verbindende Geräusch betont seine Qualität als anwesendes Abwesendes noch stärker. Ist im ersten Fall noch zumindest das Radio als Medium lokalisierbar, so ist im zweiten Fall die Quelle des Geräuschs noch deutlicher nicht anwesend: der Schuß.
In den beiden ersten Sequenzen hören die Charaktere den Schuß jeweils kurz vor Verlassen des Hotelzimmers. Zwar verharren sowohl das japanische Pärchen als auch Dee Dee und Luisa in einem kurzen Schockzustand, jedoch eröffnen die Reaktionen sehr unterschiedliche Rezeptionen. Nach dem Geräusch, das offensichtlich aus einem anderen Teil des Hotels stammt, fragt Mitsuko "War das ein Schuß?" Juns Antwort enthüllt ein weiteres Zeichen: "Wahrscheinlich, das ist Amerika." Es drängt sich der Eindruck auf, daß das japanische Paar Amerika als Marke, als medial vermitteltes Klischee wahrnimmt: Elvis, Carl Perkins, "Yes, please, thank you!", Schußwechsel als fester Bestandteil des US-amerikanischen Alltags. Im Zimmer nebenan fragt auch Dee Dee "Was this a gunshot?". Luisa : "A .38, perhaps." Wie in Zimmer Nr. 27 weist die Reaktion auf die vorfilmische Realität der Charaktere hin: Woher weiß Luisa, wie sich der Schuß aus einem .38 von dem eines .46 Revolvers unterscheidet?
Als zum dritten Mal der selbe Schuß ertönt, offenbart sich dem Rezipienten zwar die Geräuschquelle. Aber auch hier ist der Schuß nur zu hören, der Verursacher nicht zu sehen. Dem Zuschauer wird gezeigt, wie Charlie den Selbstmord Johnnys verhindert, was in ein veritables Handgemenge mündet. Doch dann: Schnitt auf die Hotellobby und die zwei noch dösenden Hotelangestellten. Erst jetzt ertönt der Schuß. Die zwei Portiers befinden sich in vergleichbarer Situation wie die Gäste in Nr. 25 und 27. Sekundenlanges Schweigen folgt. "I knew it!" - das muß aus Zimmer 22 kommen, der Portier kennt seinen Schwager. Er schickt den Pagen, nachzuschauen, was los ist. An dieser Stelle zeigt sich die Unmöglichkeit, parallel verlaufende Handlungen als synchron zu entschlüsseln in aller Deutlichkeit. Die Kamera verharrt auf dem Portier, aus dem Off hört man, wie der Page die Treppe raufgeht. Schnitt auf die Situation, in der die Kamera das Handgemenge in Nr. 22 verlassen hat. Zu sehen sind drei Paar Beine, der Revolver, eine blutverschmierte Hand, die sich an ein Bein klammert. Erschossen wurde offenbar niemand. Langsam schwenkt die Kamera nach oben bis die Gesichter im Bild sind. Keiner rührt sich, Sekunden vergehen. Plötzlich kommt doch Bewegung in die Sache, als Charlie zu brüllen anfängt: "You fucking shot me!". Schnitt auf die Tür, der Page kommt rein. Offensichtlich wird dem Zuschauer eine nach M.C.Escher konstruierte Zeit präsentiert: Simultaneität und Chronologie gehen ineinander über. Nimmt man den Schuß als Anhaltspunkt, so muß davon ausgegangen werden, daß sich der Schockzustand direkt an den Schuß anschließt. Jedoch scheint es, als sei der Page längst unterwegs, als die drei gerade erstarrten.
In beiden Fällen - "Blue Moon" und Pistolenschuß - evozieren die Geräusche ein Netzwerk zwischen den drei Zeicheneinheiten. Aus diesen filmimmanenten Querverweisen ergibt sich ein Moment der Selbstreflexivität: Es ist der Moment, in dem sich der time-lag ins Bewußtsein des Zuschauers drängt und sich die Unvereinbarkeit der Zeichen- mit der Symbolwelt offenbart. Die Differenz in der Einheit der Handlung wirkt als Katalysator: Das verbindende Geräusch aus dem Off steht der auseinanderstrebenden Dynamik der unterschiedlichen Texte, in die das Lied und der Schuß eingebettet sind, gegenüber.
Wiederholungen fordern auch auf andere Weise intertextuelle Schlüsse heraus. Besonders deutlich wird dies am Aufbau der drei Episoden. Denn die Grundstruktur der Einzelteile ist symmetrisch. Bevor die Charaktere das Hotel betreten, ziehen sie alle durch die Stadt, mehr oder weniger ziellos. Ins Auge sticht, daß sie mitunter die gleichen Straßen entlang gehen, an den gleichen Gebäuden und Kreuzungen vorbeikommen, bis sie schließlich im Arcade Hotel landen. Hier wird die Symmetrie des Aufbaus deutlicher. Kaum fällt die Zimmertür hinter den Gästen zu, fällt der Satz: "No TV". Sowohl Jun, als auch Dee Dee und Charlie scheinen enttäuscht ob dieser Entdeckung. In allen Sequenzen liegen die Charaktere im Bett, versuchen einzuschlafen. Immer nachdem Blue Moon lief, wird auf die Hotellobby geschnitten, wo der Page mit einer Sonnenbrille herumfingert. Diese Szene wird langsam ausgeblendet, geht in Schwarz über, darauf folgt in den ersten beiden Versionen eine Aufblende, die jeweils die Charaktere beim Aufwachen zeigt. Auch bei Episode Nummer Drei geht der Aufwach-Szene eine (andere) Lobby-Szene voran - der Übergang vom einen zum anderen wird ebenfalls durch eine Abblende-Schwarz-Aufblende-Folge markiert.
Zwar sind die Episoden als in sich geschlossene Entitäten zu verstehen, dennoch enthüllen sich auf Storyebene nach und nach andere Berührungspunkte als nur die Gleichzeitigkeit von Ereignissen und die Symmetrie des Plots.
An einigen dieser Punkte ist festzumachen, daß die Personen »ihre« Geschichten verlassen und explizit oder implizit in einer anderen Geschichte auftauchen. Am offensichtlichsten ist diese Variante der Intertextualität am Beispiel von A Ghost und Lost in Space. Der Freund, den Dee Dee gerade verlassen hat, entpuppt sich als Johnny-Elvis. In Episode Zwei erfährt der Zuschauer, daß Dee Dees Ex Johnny ein Brite ist, der es haßt, von allen Elvis genannt zu werden, und dem sie alles zutraut. Außerdem erzählt sie, daß er sie nicht habe heiraten wollen, daß sie sich nicht von ihrem Bruder verabschiedet habe, daß sie auf dem Weg zu einer Freundin nach Natchez sei. In der darauffolgenden Geschichte lernt der Zuschauer einen jungen Mann mit schwarzer Tolle und britischem Akzent kennen, der gerade von seiner Freundin verlassen worden ist und seinen Spitznamen haßt: Elvis.
Retrospektiv weiß der Zuschauer die beiden Geschichten miteinander zu verknüpfen, addiert all die Information, die er von Dee Dee bekommen hat, dazu. Damit weiß der Zuschauer einerseits mehr als Charlie (Johnny und Dee Dee sind nicht verheiratet), andererseits weniger als Johnny (sie wollte ihn nicht heiraten).
Andere Exempel dieser Art, die quasi en passant ablaufen, wären zum einen die »Begegnung« zwischen Luisa und Will, als letzterer gerade den Keilriemen seines Trucks repariert, zum anderen die »Begegnung« von Jun und Mitsuko und Charlie, an dessen Laden das Pärchen vorbeischlendert; oder schließlich als Dee Dee und das japanische Paar in den selben Zug einsteigen.
An diesen Beispielen wird klar, daß Jarmusch vieles nicht ausformuliert, den Rezipienten die Fakten sozusagen »nicht unter die Nase reibt«, sondern verschiedene Zeichen, clues, anbietet, die individueller Wahrnehmung bedürfen, um sie zu einem sinnigen Ganzen zu verbinden. Mystery Train läßt sich durchaus umschreiben als "celebration of diversity and contingency".30
Gerade indem er ein Netzwerk von potentiellen Zusammenhängen auslegt, ist es Jarmusch möglich, die absolute Offenheit seines Textes auszuspielen: Fragmentarisierung als Existenzbedingung. Er beweist eine "postmodern sensibility - his ability to mix texts and contexts to produce a highly ambiguous whole".31 Nicht umsonst verwendet Bakhtin in seinem Dialog-Konzept auch den Terminus heteroglossia - Vielsprachigkeit: Eine babylonische Kakophonie impliziert Zersplitterung der Sprache und Unendlichkeit der Interpretation zugleich.
Es ist spannend, vor diesem Hintergrund die Einzelteile bezüglich der Beziehungen der episodenimmanenten Charaktere und ihrer Diversität zu vergleichen. In eine Richtung nehmen die Sprachprobleme ab: Wird in Episode Eins größtenteils Japanisch gesprochen und die Dialoge mit Untertiteln versehen, ist in der zweiten Folge nur anfangs ein wenig Italienisch zu hören, ansonsten Englisch mit starkem Akzent, in Nummer Drei schließlich haben wir es ausschließlich mit Muttersprachlern zu tun. Es ließe sich also sagen, die Fragmentarisierung nehme ab. Dem widerspricht allerdings eine andere Tendenz: Im ersten Teil sind die Hauptakteure von vornherein zusammen: Jun und Mitsuko kommen zusammen an, schlendern gemeinsam durch Memphis, landen zu zweit im Hotel. Bei "A Ghost" wird dem Zuschauer zunächst nur Luisa gezeigt - erst im Hotel selbst trifft sie auf die zweite, fremde Hauptfigur, Dee Dee. Die letzte Geschichte schließlich besteht zunächst sogar aus drei Einzelgeschichten: Johnny in der Kneipe, Will beim Marshmellow Grillen und Charlie im Friseursalon werden parallel vorgestellt, bevor sie nach einer gemeinsamen Odyssee ins Arcade kommen. In diesem Aspekt nimmt die Komplexität also zu: Aus einer Story werden zwei, werden drei, wird ein übergreifender Plot.
Diese Kombination aus Offenheit und Ambiguität erweist sich auf kinematographischer Ebene ebenfalls als durchgängiges Merkmal. Generell läßt sich sagen, daß Jarmusch eigentlich ausschließlich mit Halbtotalen und Amerikanischen arbeitet - Totale beziehungsweise Detail- oder Großaufnahmen gibt es bis auf zwei oder drei Ausnahmen (etwa die Einfahrt des Zuges, die Zeitungsschlagzeile im Diner) überhaupt nicht. Auf diese Weise gelingt es ihm, einerseits Distanz zu wahren, andererseits den Rezipienten in einer Schwebelage zu belassen: Er sieht - aber nicht genug, um sich eine Gegend oder einen Raum gedanklich erschließen zu können. Es sind lediglich Fetzen einer Stadt, eines Hotelzimmers, die enthüllt werden, der Gesamtüberblick fehlt völlig.
Verstärkt wird diese kaleidoskopische Qualität durch die Art seiner Kamerafahrten; beziehungsweise der Fahrten, die er tatsächlich macht: Denn die grundlegende Einstellung ist die einer unbewegten Kamera - die Einstellung bleibt gleich, eröffnet einen bestimmten (Aus-)Blick, die Charaktere gehen ins Bild und aus dem Bild, aber die Kamera ist starr. Mitunter jedoch folgt die Kamera einer Person, doch auch in diesen Fällen stets nach dem gleichen Muster. Die Kamera zeigt eine menschenleere Szene, als von rechts jemand das Bildfeld betritt, folgt die Kamera der Person auf ihrem Weg nach links, auf einmal hält die Kamera, die Person läuft links aus dem Bild, zu sehen ist wieder eine menschenfreie Szenerie. So füllt sich nach und nach die mentale Landkarte des Rezipienten mit Blitzlichtern wie diesen - ohne daß er Anhaltspunkte hat, sich anhand dieser Ausschnitte zu orientieren.
Daß diese Lücken das sind, worauf es Jim Jarmusch ankommt, führt seine Kunst der Schwarzblende deutlich vor Augen. Schnitt ist nicht gleich Schnitt: Sehr oft hebt er den Moment des Schnitts hervor, indem er ihn gewissermaßen verlängert. Die Leinwand ist sekundenlang schwarz. In diesem Schwarz trennen sich Zeichen von Symbolen, konstituieren sich Signifikate aus gegebenen Signifikanten. Es ist, als überlappten sich in diesen Momenten zwei Film-Enden, zwei Zeichensysteme. Das Schwarz ist das dem Zuschauer buchstäblich vor Augen gehaltene Dazwischen, in dem das Davor mit Subjektivität und Sinn belegt wird.
Markant ist, daß diese Schwarzblenden in die Symmetrie der Episodenplots integriert werden; sie sind sozusagen die Spiegelachsen, entlang derer sich die Geschichten aufbauen. Etwa kennzeichnen sie jeweils Anfang und Ende einer Einheit, bevor die Titeleinblendung auf den Beginn der nächsten Geschichte hinweist. In diesem Fall gehen Selbstreflexivität (eingeblendeter Titel) und Intertextualität (Schwarzblenden als Strukturmerkmal) ineinander über. Sie markieren dadurch auch die Schwelle zwischen einer Zeicheneinheit und der nächsten, es ist unmöglich zu sagen, wo die eine Episode anfängt und die andere aufhört. Auch hier liegt der Verweis zu Bhabhas time-lag auf der Hand, wenn er auf die räumliche wie zeitliche Unbestimmbarkeit des Dazwischen anspielt.
Um noch einmal in aller Deutlichkeit die Verbindung zwischen time-lag, Intertextualität und Selbstreflexivität herzustellen: Der time-lag als das Moment, in dem die Leerstelle zwischen den Zeichen mit Sinn gefüllt wird, markiert somit auch den Grenzbereich zwischen Illusion und Wirklichkeit. Via intertextueller Verweise ist es jedoch möglich, daß sich der Prozeß dieses Dazwischens als sich selbst offenbart. In diesen Momenten gelingt es dem Film, "jene virtuos eliminierte Grenze zwischen Realität und Fiktion als Leerstelle markiert und damit sich auch diese Filme wieder selbst indirekt als Produzenten des Amalgams von Bild und Wirklichkeit ausweisen."32 Erstaunlich ist die Ähnlichkeit zu Homi Bhabhas Beschreibung des plötzlichen Überlappens zwischen sign und symbol. In "Postcolonial Authority and Postmodern Guilt" sagt er: "[T]he temporal break or intervention, associated with the activity of the sign, happens in the liminal moment of the ego-deprived of subjectivity - but that is precisely where something happens which can take on a new and differential meaning for the subject in synchronic order of symbols."33
Nimmt man eine Position der Distanz ein und betrachtet nun den ganzen Film, so finden sich Argumente, Mystery Train als postmoderne Metapher für Bhabhas time-lag zu lesen. Wie eben erneut hervorgehoben sind zwei Punkte essentiell: Zufall und Überlappung. Darin enthalten sind die Gleichzeitigkeit von Symbol und Zeichen einerseits und von Raum und Zeit andererseits. Eingebettet ist das oszillierende Dazwischen in die Chronologie des »Lesens«: Das zum Zeichen hin im Vormoment der Wahrnehmung, das vom Zeichen weg im Nachklingen der Sinnstiftung.
Überträgt man diese Grundkomponenten auf Jarmuschs Mystery Train, findet sich das Zum-Zeichen-hin und Vom-Zeichen-weg in den Rahmensequenzen wieder. Genauso wie das wahrnehmende Subjekt zum heterogenen Abyss der Sinnstiftung hin- und weggebracht wird, wird der Zuschauer zusammen mit Mitsuko und Juno im Zug nach Memphis transportiert, am Ende wieder aus Memphis weg. Die Zugsequenzen sind bildlich als Verbindung zum Moment des Dazwischen zu verstehen, bestimmt durch den Verlauf der Schienen, einem Syntagma der Zeichen gleich. Der Zuschauer, der Film und das japanische Pärchen werden quasi entlassen in eine Simultaneität von Raum und Zeit. Dieser zentrale Ort ist das Arcade Hotel, in dem eine Zeitspanne in drei Versionen nebeneinander wohnt. Das Subjekt drängt es, aus dieser zufällig entstandenen Überschneidung (alle drei Personengruppen sind per Zufall in diesem Hotel gelandet), Bedeutung zu konstruieren, kurz: Raum und Zeit zu definieren. Die angebotenen Hinweise werden dankbar ergriffen, um die fragmentarisierte Zeit und den flüchtigen Raum einzufangen.
Mit Hilfe der ausgelegten Köder wie Blue Moon um 2.17 Uhr oder dem Schuß am Morgen, bemüht sich der Rezipient, sich der Zeit anzunähern. Da allerdings die Gleichzeitigkeit der Geschichten erst retrospektiv erkennbar wird, ist dieser Versuch vergeblich: Die sinnstiftenden, intertextuellen Zeichen miteinander zu verknüpfen, bedeutet auch, daß die zeitliche Umgebung des Schusses oder des Radio-Songs verschwimmt und nicht parallel geschaltet werden kann. Nur, wenn man die relevanten Sequenzen in allen drei Lesarten gleichzeitig sehen könnte, wäre der ersehnte direkte Vergleich möglich.
In gleicher Weise bleibt es unmöglich, sich dem Raum des time-lag zu nähern. Die Straßen von Memphis wie auch die Umgebung des Hotels werden nur in Bruchstücken gezeigt, die keine Inbezugsetzung zu einem Ganzen zuläßt. Genauso fragmentarisiert muß der Eindruck des Hotelinneren bleiben. Die Räume werden zwar genauso präzise genannt wie die Uhrzeit im Radio, dennoch ist es ebenso ausgeschlossen, Nr. 22, 25 und 27 und die Hotellobby in Relation zueinander zu imaginieren.
Doch letztenendes muß das Subjekt feststellen, daß Sinn nur als unumfaßbares Etwas in der Mitte zwischen zwei Polen hängen kann. Es kann lediglich eine Annäherung an vollkommene, klar umgrenzte Simultaneität geben, aber es wird immer soviel Dazwischen übrig bleiben wie zwischen den Worten "Natchez" und "Matches". Und es ist dieser Schwellenbereich des time-lag, der "an unlimited number of perspectives" erlaubt, was Jarmusch kommentiert mit: "I find optimism in that."34
Egal welche der existierenden Dichotomien im Film implizit oder explizit angesprochen werden: seien es der klassische Hollywoodfilm und die Indepedent-Film Szene auf der einen Seite oder die Konflikte zwischen African-Americans und "snowflakes" auf der anderen. Im Dazwischen liegt die Wahrheit und die Kraft, diese binären Codes als simultan und somit nicht-existent zu begreifen: "In their ellipses and silences they dismantle your authority: the vanity of your mimetic narratives and your monumental history; the metaphoric emblems in which you inscribe The Great Book of Life."35
Auch in der Schlußeinstellung von Mystery Train beweist Jarmusch, daß er am liebsten das ausspart, was im Hollywood-Film die »Action« wäre und stattdessen das Zwischen präsentiert - und somit alles offen läßt.
In einer für ihn außergewöhnlichen Totalen zeigt er zum ersten und letzten Mal alle drei Gruppen auf einmal (von Luisa abgesehen). Allerdings nur als Implikation: Im Zug rauschen Jun, Mitsuko und Dee Dee davon, parallel zu den Schienen flieht das Unglückstrio Charlie, Will und Johnny vor den Polizeisirenen, welche sich kurz hinter dem Truck in die falsche Richtung entfernen. Die Draufsicht ermöglicht zwar, die einzelnen Komponenten in ihrer räumlichen wie zeitlichen Simultaneität miteinander in Beziehung zu setzen, die einzelnen Schicksale scheinen wieder auseinanderzudriften, jedoch: Diese Verbindungen sind nur in Abgrenzung zu dem jeweils anderen möglich, also mittels der "spaces that happen between things". Jarmusch: "Theres even a word in Japanese that comes from the Chinese idiogram ma, that we cant translate into English....It basically means the space between things which defines those things by not being part of them."36
Fussnoten
1 Steven Rea, "The Filming Luck of Jim Jarmusch", in: Philadelphia Inquirer, December 24/1989 (Internet: http://jimjarmusch.tripod.com, 22.04.01) 2.
2 Thomas Colbath, Steven Blush "Jim Jarmusch Interview," in: Seconds Magazine, 37/1996 (Internet: http://jimjarmusch.tripod.com, 22.04.01) 3.
3 ebd. 4.
4 ebd. 3.
5 Bhabha The Location of Culture 186.
6 Homi Bhabha, "Postcolonial Authority and Postmodern Guilt," in: Cultural Studies, Lawrence Grossberg, Cary Nelson, Paula A. Treichler (Hgg.) (New York: Routledge, 1992) 57.
7 ebd. 57.
8 Ihab Hassan, "Postmoderne Heute".
9 Bhabha 57.
10 ebd. 58.
11 ebd. 58.
12 Bhabha 59.
13 ebd. 59.
14 ebd. 59.
15 Homi Bhabha, The Location of Culture (New York, London: Routledge, 1994) 51.
16 Bhabha, The Location of Culture 51.
17 Robert Stam, Robert Burgoyne, Sandy Flitterman-Lewis (Hgg.) New Vocabularies in Film Semiotics: Structuralism, Poststructuralism and Beyond (New York, London: Routledge, 1992) 204.
18 Margaret Waller, "Intertextuality and Literary Interpretation," in: Julia Kristeva: Interviews, Ross Mitchell Gubermann (Hg.) (New York: Columbia UP, 1996) 189.
19 Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache (Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1978) 69.
20 ebd. 70.
21 Waller 190.
22 ebd. 190.
23 Leslie Devereaux, "Cultures, Disciplines, Cinemas" 331.
24 Hassan, "Postmoderne Heute" 52.
25 Hassan 55.
26 Stam et al. 200.
27 Lawlor, "Chapter Four: Mystery Train" (Internet: http://jimjarmusch.tripod.com, 22.04.01) 2.
28 Stam et al. 207.
29 Bhabha, The Location of Culture 183.
30 Lawlor, "Chapter Four" 4.
31 Lawlor, "Chapter Four" 4.
32 Katharina Sykora, "Paragone: Selbstrefelxivität im vorfilmischen Bild," in: Im Spiegelkabinett der Illusionen: Filme über sich selbst, Ernst Karpf (Hg.) (Marburg: 1996) 54.
33 Bhabha "Postcolonial Authority" 59.
34 Carl Wayne Arrington, "Film's Avant-Gardian," Rolling Stone 3/22/90 (Internet: www.jimjarmusch.tripod.com, 22.04.01) 1.
35 Bhabha, "Postcolonial Authority" 66.
36 Rea 2.
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