This text has been submitted as an original contribution to cinetext on April 7, 2004.
The Man Who Wasn't There: Quantenmechanik und Kafka. Intertextualität als narratives Programm.
von Manuel Scheidegger |
“Sometimes knowledge is a curse.“ (Coen/Coen 2001)
Der Film beginnt mit einem Bild. Während die Namen der Schauspieler noch eingeblendet werden, verharrt die Kamera auf einer Art Litfasssäule, die mit Hilfe einer mechanischen Bewegung die Illusion einer sich ins Unendliche fortpflanzenden Spirale erzeugt. Einerseits Abbild einer unbedeutenden künstlerischen Intervention in einer amerikanischen Kleinstadt, ist die Spirale zugleich Sinnbild. Eine fortlaufende Kreisbewegung, in der das ständig erneuerte Gleichgewicht von zentripetaler und -fugaler Kraft eine nicht veränderbare Spur erzwingt. Rhythmus und Dynamik signalisieren die Unausweichlichkeit, mit der Ed Crane auf seine Hinrichtung zusteuert. Einmal in Gang gesetzt, reisst die Ereignisspirale ihn in ihrem Strudel unweigerlich mit.
Der Impuls, der die Bewegung auslöst und das System der diegetischen Welt nachhaltig verändert, ist ein menschlich nachvollziehbarer. Ed Crane versucht, sein Leben zu ändern, aus der Bahn des Gewohnten auszubrechen. Der Einstieg ins Trockenwaschgeschäft verspricht die Möglichkeit, endlich den Beruf des Frisörs aufzugeben, in den er ungewollt durch seine Heirat geraten ist. Dass es ausgerechnet Trockenwäsche ist, die seinen Neuanfang markieren soll, ist ebenso pubertärer Scherz, wie es auch als Zeichen für jenen imaginär-magischen Impetus steht, dessen Versprechen Ed Cranes einzige Hoffnung zur Überwindung seiner Lebensrealität bedeuten wird.
Vorerst aber hat Cranes Tat fatale Folgen. Cranes Umfeld, zeigt sich jetzt, ist ein komplex funktionierendes Geflecht von Beziehungen, welches durch die Erpressung bedingt kollabiert. Es ist die ökonomische (Ohn-)Machtstruktur einer amerikanischen Kleinstadt, in der jeder Beteiligte seine materielle Sicherheit dem Erfolg eines anderen verdankt. Big Dave hat in die Nirdlinger-Dynastie eingeheiratet und braucht das Geld seiner Frau für die Eröffnung einer neuen Filiale, in der wiederum Doris Crane Geschäftsleiterin werden soll. Die dazu benötigte Summe erpresst Ed Crane, um sie als stiller Teilhaber in Creighton Tollivers Geschäftsidee zu investieren.
Dave und Doris. The Man Who Wasn't There (Good Maschine/Constantin/USA, 2001)
Der Kreislauf des Gelds ist empfindlich gestört. Es ist für den Einzelnen nur schwer möglich, die Verhältnisse zu überblicken und die Konsequenzen seiner Handlungen abzuschätzen. In einem seiner frühen Romanfragmente, Amerika, beschreibt Franz Kafka die Unheimlichkeit und Unüberschaubarkeit des amerikanischen Kapitalismus, eines „Systems von Abhängigkeiten“ (zit. nach KNL 1996:54). Es ist bezeichnenderweise dieser Roman, der uns erste Aufschlüsse über das Korrelat des Coen-Films mit der Literatur Kafkas gibt.
Hier wie dort gerät ein Mensch in einen nicht zu stoppenden Strudel von Ereignissen, deren fataler Chronologie er ratlos und ohnmächtig gegenüber steht. In beiden Fällen steht die Verurteilung eines unschuldigen Menschen am Anfang. Sowohl Karl Rossmann, Protagonist in Amerika, wie Ed Crane versuchen die Verteidigung des Angeklagten. Der objektiven Wahrheit ans Licht zu verhelfen, ist für sie grundsätzliches Gebot und fundamentaler Bestandteil des Glaubens an eine funktionierende Umwelt. „Du musst dich aber zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben die Leute keine Ahnung von der Wahrheit.“ (Kafka 1997:37). Crane wie Rossmann werden enttäuscht. Die Wahrheit spielt keine Rolle, die Geschehnisse nehmen einen anderen Verlauf.
Das ist ein tiefer Bruch im Lebensverständnis der beiden. Es gibt richtige Handlungen, die zu falschen Ergebnissen führen. Im Falle Cranes ist dies besonders krass. Kein Mensch um ihn herum, weder der Staat und seine Justiz noch die Ehefrau des Ermordeten ahnen im Geringsten die Wahrheit des Geschehenen. Im Gegenteil entwickelt die Wahrheit ihre eigene Geschichte. Für einen Moment scheint es Ed, als wüsste er jetzt mehr als die anderen, als wäre er einem tieferen Geheimnis auf der Spur: „Like I had made it to the outside, somehow, and they were all still struggling, way down below.“ (Coen/Coen 2001).
Ed will Herr über den Verlauf seines Lebens sein. Dazu muss er aber im Stande sein, das Leben an sich zu begreifen, sein Funktionieren zu verstehen. „Was aber ist die Biographie? „Das Spiel, das ich gespielt habe!“, antwortet das optimistische bürgerliche Individuum. „Unsinn“, antwortet sein pessimistisches Double: „Es ist das Spiel, das mit dir gespielt wurde!“ – „Wer aber bestimmte die Regeln? Und wo sind sie niedergelegt?“ – „Das eben war deine Biographie: die vergebliche Suche nach den Regeln.““, schreibt Georg Seesslen und bezieht sich dabei interessanterweise auf die Coenfilme, die vor The Man Who Wasn’t There entstanden sind (Seesslen 2000:232).
Die Helden der Coenfilme scheinen diese aporetische Suche zum Programm gemacht zu haben. Ed Crane nimmt sich davon nicht aus, im Gegenteil. Es sind die langsamen Mühlen der Justiz, denen er sich jetzt erst einmal überantworten muss. Seine Person wird dabei hinfällig, der Advokat Riedenschneider übernimmt die Geschäfte. Es ist das unglückliche Paradox Cranes, dass, je mehr er sich von seiner Rolle als Frisör weg emanzipieren will, er desto mehr über sie identifiziert wird. “I'm an attorney, you're a barber; you don't know anything. Understood?“, sagt Riedenschneider bei ihrem ersten Treffen (Coen/Coen 2001).
Ed. The Man Who Wasn't There (Good Maschine/Constantin/USA, 2001)
Identität wird in diesem Film in merkwürdiger Weise eindimensional konstituiert. Die Funktion innerhalb der Gemeinschaft definiert die Persönlichkeiten und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung. Die persönliche Freiheit, mit eigenen Handlungen Einfluss auf die zugewiesene Rolle zu nehmen, ist marginal. Es ist mitunter diese böse Logik, die Ed Cranes Bemühungen von Beginn weg zum Scheitern verurteilen muss.
Kafkas Held in Amerika erfährt die Grenzen seiner Möglichkeiten im gelobten Land der Freiheiten in gleicher Weise. Sei es als Liftboy im undurchschaubaren Hotel Occidental oder als Knecht bei der Sängerin Brunelda: nie gelingt es ihm, die diesen Rollen zugedachten Räume aus eigenem Antrieb zu verlassen. Diese Erfahrung der Ohnmacht ist allen grösseren Romanen Kafkas gemein. Ihre Helden scheitern nicht an sich selber, selbst das bleibt ihnen verwehrt. Ihr Scheitern hat seine fatale Ursache im Nichtvorhandensein einer höheren Instanz, zu der sie ihr Handeln in Bezug setzen können. Kafkas Helden verschwinden im System, sie gehen belanglos unter in einer diffusen Menge von stets widersprüchlichen Daten, die sie auf Ewigkeiten absorbieren wird. In Amerika mündet dieser Prozess zum einzigen Mal in einen optimistischeren Ausgang. Karl Rossmann findet im „Naturtheater von Oklahoma“ als Künstler jenseits von normal weltlichen Bezügen zu einer neuen Identität. Sein Verlorengehen markiert möglicherweise die einzige Utopie, die Kafka sich vorstellen konnte und die ihm Zeit seines Lebens doch verwehrt blieb, das ausschliessliche Dasein für die Kunst.
„Der Mensch ist hier etwas Schlimmeres als ein Opfer des Systems, er ist immer nur Komplize, mal, weil er das gerade so will, das andere Mal, weil er es gerade nicht will.“, schreibt wieder Georg Seesslen in einer Arbeit zum Coen-Film O Brother Where Art Thou? und zeigt ein weiteres Mal auf, dass die Helden der Coens jenen Kafkas sehr verwandt sind (Seesslen 2000:227). Auch Ed Crane wird sich im unwiderruflichen Fortlauf der Ereignisse zunehmend verlieren. Es ist kein Zufall, dass ein anderer Titel des Amerika-Romanfragments, Der Verschollene, in erstaunlicher Weise mit dem Filmtitel korrespondiert.
Ed Crane wie Josef K., Kafkas Hauptperson im Roman Der Prozess, glauben an die Prinzipien des Rechtsstaats. Das Gericht ist für sie die von der Gesellschaft institutionalisierte Instanz, deren objektive Urteile eine Massgabe schaffen müssten, auf die man sich beziehen kann. Beide erfahren eine andere Realität. Wo für Josef K. nicht einmal der Gerichtsapparat an sich erkennbar wird, muss Crane ähnlich Schlimmes in Kauf nehmen: die Durchsichtigkeit des gerichtlichen Verfahrens ist nicht gewährleistet. Wahrheit spielt hier keine Rolle mehr. „Where is the judge?“ ist denn auch sinnigerweise die von Frank Raffo wiederholt beunruhigt gestellte Frage (Coen/Coen 2001).
Als Zuschauer befinden wir uns in derselben Ratlosigkeit wie Ed. Haben wir nicht gerade gesehen, wie er in Notwehr den dicken Big Dave abgestochen hat? Und doch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Ed und wir die einzigen sind, die die Geschehnisse so betrachten. Ann Nirdlinger, Big Daves Gattin, verblüfft uns mit einer ganz anderen Auffassung der Ereignisse, wenn sie vom Raumschiff, den Ausserirdischen und dem Komplott der Regierung erzählt.
Wahrheit ist das, was wir daraus machen. Riedenschneider, der ebenso gewiefte wie nimmersatte Anwalt aus Sacramento, macht sich diese Tatsache zu eigen und entwickelt darin wahre Meisterschaft. Dieser Anwalt übernimmt mit dem Fall zugleich die Geschichte seines Klienten. Nach seinem Gutdünken formiert er sie neu und gestaltet mit dem Material eine eigene Version von Wahrheit. In einem Gericht wie diesem wird ein Anwalt in der Kategorie Riedenschneiders zum Künstler, zu einem kleinen Gott für sich.
Es ist die Unschärfebeziehung, die er in diesem Fall zu Rate zieht, ihres Zeichens wohl revolutionärste Formel der modernen Physik. Sie besagt, dass es, bedingt durch die Entdeckung der Teilchen-Wellen-Doppelnatur von Elektronen, „prinzipiell unmöglich ist, Ort und Geschwindigkeit, also den exakten Verlauf der Bewegung eines Elektrons, genau zu kennen“ (zit. nach Baars/Christen 1995:44). Die Ursache liegt darin, dass die jeweilige Messung den Status des gemessenen Elektrons augenscheinlich so verändert, dass immer nur eine Eigenschaft der Doppelnatur zum Tragen kommt, was genaue Vorhersagen über die Bewegung verunmöglicht. Einzig lassen sich Berechnungen über die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten anstellen, auf deren Grundlage sich dann Aussagen über ungefähre Elektronendichten machen lassen. Die Bedeutung dieser Erkenntnis ist tiefgehend und markiert einen entscheidenden Bruch im Verständnis der Naturwissenschaften. Die Unschärfebeziehung bezeichnet eine Grenze der exakten Wissenschaften, ein Moment der Potentialität, das in den Berechnungen berücksichtigt werden muss. Wenn Immanuel Kant in seiner transzendentalen Analytik noch davon ausgegangen ist, dass der Mensch mit seinen Urteilen im Stande ist, die Natur in einer gesetzmässigen Ordnung zu erfassen, dann wird er hier offensichtlich widerlegt. Die Unschärfebeziehung ist nicht nur eine Grenze der menschlichen Erkenntnis, sie liegt vielmehr in der chaotischen Struktur der Natur selbst beschaffen.
In den Worten Riedenschneiders: „But sometimes, you look at it, your looking changes it. (…) the more you look, the less you really know.“ (Coen/Coen 2001). Das Problem der ungenauen Erkenntnis begleitet auch Franz Kafka sein Leben lang. Symptomatisch heisst es in Beschreibung eines Kampfes, einer seiner Erzählungen: „Ich hoffe von Ihnen zu erfahren, wie es sich mit den Dingen eigentlich verhält, die um mich wie ein Schneefall versinken, während vor anderen schon ein kleines Schnapsglas auf dem Tisch fest wie ein Denkmal steht.“ (KNL 1996:28). Das Akzeptieren dieses Zustands der Unentschiedenheit von Realität je nach ihrer Aspektierung gleicht einer „Seekrankheit auf festem Lande“ (KNL 1996:28) und es ist sinngemäss die Metapher vom Marschieren im Stehen, die in Kafkas Tagebüchern diese Verdammnis zur Orientierunsglosigkeit illustriert.
Dieses Bild erinnert uns wieder an das Sinnbild der Litfasssäule, die bedrohlich und schön zugleich über dem Eingang des Frisörgeschäfts thront, wo Ed arbeitet. Auch er taumelt im vergeblichen Bemühen um Verständnis seiner Welt. Falltür ins Paradies heisst eine Geschichte Ethan Coens, in der die Hauptfigur ratlos in ein bizarres, nie auflösbares Komplott gerät und damit jene gedankliche und seelische Nähe der beiden Autoren Ethan Coen und Franz Kafka anzeigt. In Falltür ins Paradies wird das Aussergewöhnliche zur einmaligen Episode, die den Protagonisten höchstens noch in ihrer Erinnerung bedrücken wird. Crane hingegen muss sein Schicksal akzeptieren: sein Leben ist aus der Bahn geraten, die es möglicherweise so nie gegeben hat. Nachdem Doris Crane sich im Gefängnis umgebracht hat, konstatiert er seine Verlorenheit: „I sat in the house, but there was nobody there. I was a ghost; I didn’t see anyone; no one saw me.“ (Coen/Coen 2001).
So lange die Suche nach der Regel das Dasein bestimmt, bleibt der Mensch hinter der unausgefüllten Form seiner Person zurück und verliert die Freiheit einer aktiven Selbstdefinition. Ed versucht die Flucht. Birdy, Walter Abundus Tochter, verspricht mit ihrer Musik das Gelingen eines selber gestalteten Lebensglücks. Hier erinnert Ed einmal mehr an Karl Rossmann in Amerika: „Karl erhoffte in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken.“ (Kafka 1997:44). Es scheint auch Eds letzter, aufkeimender Funken Optimismus zu sein, der ihn an Birdys Talent und die Chance ihrer grossen Karriere glauben lässt. Plötzlich kann Birdy mit Recht feststellen: „You’re an enthusiast.“ (Coen/Coen 2001). Crane bejaht und führt uns einmal mehr vor Augen, wie schwer wir uns von unserem Protagonisten ein Bild machen.
Birdy. The Man Who Wasn't There (Good Maschine/Constantin/USA, 2001)
Die Kontemplation in der Kunst ist aber stets nur eine scheinbare Erlösung vom Leiden des Lebens: „In den Momenten des ästhetischen Geniessens gleichen wir dem Sklaven, der seine Kette vergisst, oder dem Kämpfer, der seinen übermächtigen Gegner freilich nicht mehr vor Augen hat, aber nicht, weil er ihn vernichtet hätte, sondern weil er vor ihm geflohen ist: im nächsten Augenblick wird er wieder von ihm eingeholt.“, schrieb Schopenhauer (zit. nach Jung 1995:120). Cranes Leiden ist dasjenige des modernen Menschen, „...an ordinary man, guilty of living in a world that had no place for me, guilty of wanting to be a dry cleaner, sure, but not of murder...,” résumiert Ed das fulminante Plädoyer seines Anwalts (Coen/Coen 2001).
Die Wahrheit ist “ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.”, schrieb einst einer der Vordenker des modernen Menschen schlechthin, Friedrich Nietzsche (zit. nach Jung 1995:121f). Freddy Riedenschneider ist dieser Lehre dankbarer Apologet. Weit über die Möglichkeiten seines Berufsstandes hinaus versteht er es, die Klaviatur der Wahrheitsmaschinerie so perfekt zu bespielen, dass den Geschworenen Hören und Sehen vergeht.
Seine Methode hat kulturgeschichtliche Relevanz. Wahrheit wird längst als eine Funktion von Aussageverkettungen aufgefasst und der Prozess des Diskurs widersprüchlicher Ausdeutungen gehört zu den Praktiken moderner Hermeneutik. Franz Kafkas Werk steht für solche Bewegungen geradezu paradigmatisch in der Literaturgeschichte. Innerhalb des Kafkaschen Oeuvres ist insbesondere eine Stelle im Roman Der Prozess höchst aufschlussreich. Im Kapitel „Im Dom“ wird Josef K. vom Gefängnisgeistlichen eine „Legende“ vorgetragen, deren Botschaft den Hinweis enthält, dass der Sinn eines Daseins in dessen Sinnlosigkeit zu suchen sei. Wie sich auch die „Legende“ selber einem einheitlichen Sinn entzieht, muss man davon ausgehen, dass Interpretationen sich im Verhältnis zur notwendigen Unbegreiflichkeit der Geschichte immer in blosse „Meinungen“ auflösen werden (KNL 1996:46). „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“ (zit. nach KNL 1996:46).
Hier treten Kafkas Chiffrierungen in metaphorischer Weise mit dem Unschärfetheorem in Bezug. Der letztlich unverständliche Urtext ist der Grund, auf dem unsere Verstehensbemühungen umherirren. In einer Besprechung der Kafka-Erzählung „Das Schloss“ wird mit Recht festgestellt: „Die Grundrisse der Erzählung, die er [Kafka] verwirrt hat, muss der Interpret in einem unabschliessbaren Prozess neu konstruieren; so erlischt der gewohnte statische Dualismus zwischen Autor und Leser, produktivem und rezeptivem Tun.“ (KNL 1996:47).
Einerseits findet hier die Bankrotterklärung klassischer Hermeneutik statt, anderseits liegt gerade in jenem endlosen Prozess der Ausdeutung die Chance zu ihrer produktiven Weiterentwicklung: der Diskurs der Widersprüche ist letztlich die conditio sine qua non einer Gesellschaft, die in der Ermöglichung gegenseitiger Kommunikation von Differenz ihren Fortschritt überprüfen kann. Das Bauernopfer ist der Begriff der Wahrheit, der weise Zug dahinter die Potenzierung der Bedeutung von Kunst. In ihr gelangt die endlose Suchbewegung zum Spiel und gewinnt darin ihre vollendete Form.
Seesslen stellt treffend fest, und wieder hat er damit erstaunlicherweise eigentlich einen anderen Film der Coens im Visier: „So etwas Einfaches wie eine Moral hat er [der Film] nicht zu bieten gehabt, und doch war er nichts anderes, als ein langer, verzwickter Prozess der Reflexion, etwas, was die Rabbis „Klärung“ nennen, ein Hin- und Herwenden der Schrift (des Kinos), bis sie (es) zugleich selber offenbart, welche Hilfe sie (es) geben kann und weiter fortführt, in alle anderen Bereiche des Lebens hinein, zu der Klärung moralischer Fragen, die nie ein für allemal zu beantworten sind. Bis zu dem Punkt, an dem es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt, weil alles aus dem Text (den Kino-Bildern) selber hervorgeht und daher auch die Filmkritik den Mund halten könnte, wenn ihr nicht die mühevolle Aufgabe obläge, dem Text ein Bewusstsein, dem Bewusstsein eine Sprache und der Sprache eine Geschichte zu geben.“ (Seesslen 2000:235).
Ed im Kino. The Man Who Wasn't There (Good Maschine/Constantin/USA, 2001)
Beinahe erreicht der Künstleranwalt Freddy Riedenschneider Eds Freispruch. Es ist die mehr als böse Ironie dieser Geschichte, dass er, nachdem Frank Raffo das Verfahren so unglücklich unterbrochen hat, die Verteidigung niederlegt, weil Crane kein Geld mehr zu seiner Bezahlung aufbringen kann. Und was passiert? Lloyd Garroway, der neue Anwalt, stellt Crane vollständig der Gerichtsbarkeit anheim. Crane wird zum Tode verurteilt. „Es ist unmöglich sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist.“, steht formelhaft in Amerika (zit. nach KNL 1996:54).
Die Justiz ist in unserer Gesellschaft die Wahrheitsmaschine schlechthin. Was in ihren Dokumenten und Akten einmal verzeichnet ist, gilt bis auf Widerspruch als offizielle Niederschrift der Begebenheiten, wie sie in Wahrheit geschehen sein müssen. Die gerichtliche Ratifizierung verspricht ein Höchstmass an objektiv möglicher Gültigkeit und wird mit entsprechendem Gewicht Eingang in die Geschichte finden. Cranes falsches Schuldbekenntnis hat zur Folge, dass die in diesem Fall tatsächlich erblindete Justitia eine Version der Geschichte absegnet, die mit dem von uns beobachteten Verlauf der Dinge nicht übereinstimmt. Crane hat Creighton Tolliver nicht umgebracht. Meinen wir. Wer aber hat uns diese Geschichte eigentlich erzählt? Es ist Ed Crane selbst.
Im Gefängnis, auf seine Todesstrafe wartend, stellt Crane rückblickend noch einmal seine ratlose Verwirrung über das Geschehene aus: „I knew step by step of course, which is what I’ve told you, step by step; but I couldn’t see any pattern…“ (Coen/Coen 2001). Jedoch hat Crane nicht in letzter Konsequenz das Fehlen jenes sinngebenden Musters einfach hinnehmen wollen, im Gegenteil offenbart er uns im nächsten Satz ein entscheidendes Geständnis: „I’m glad that this men’s magazine paid me to tell my story. Writing it has helped me sort it all out. They’re paying me five cents a word, so you’ll pardon me if sometimes I’ve told you more than you wanted to know…” (Coen/Coen 2001). Crane ist zum Autor geworden. Er hat den einzig Erfolg versprechenden Weg gewählt, die Verwandlung des eigenen Lebens zum Kunstwerk. Das Magazin, das seine Geschichte publizieren wird, ist nun ausgerechnet jenes, in dem Crane schon früher einmal im Blättern die Headlines vom Aufkommen der Trockenwäsche und dem UFO Ereignis in Roswell hat lesen können. In der aktuellen Ausgabe prangen in grossen Lettern die Überschriften I WAS ABDUCTED BY ALIENS und AFTER TEN YEARS OF NORMAL LIFE, I DISCOVER I AM AN ESCAPED LUNATIC.
Das Übersinnliche hat seinen Eintritt ins Verzeichnis der Geschichte gefunden, als Wahnsinn oder geheimnisvolle Nebenwelt. Plötzlich bekommt die Erinnerung an die Worte Ann Nirdlingers eine andere Dimension und Ed Cranes Begegnung mit einem Raumschiff im Gefängnishof lassen seine Geschichte vollends zum Phantastischen hin oszillieren. Es ist dieses schon einmal erwähnte Imaginär-Magische, das Ed in der Gestalt des künstlerischen Schaffens die Realität überwinden hilft. Es liegt wiederholt in der bösen Ironie der ökonomischen Logik dieses Systems, dass Ed zugibt, bei der Ausschmückung der Geschichte möglicherweise etwas weit ausgeholt zu haben. Schliesslich wird ihm jedes Wort mit fünf Cent abgegolten und Stoff zur Ausdichtung hat Crane allenthalben zur Verfügung. Etwa wenn er von der im Gefängnis offenbar zur Verfügung gestellten Lektüre des Magazins Gebrauch gemacht hat, die seine Phantasie in hohem Masse angeregt haben dürfte.
In gewisser Weise ist Crane den Kafka-Helden voraus: „Die Coen – Helden sind Nachfahren von K., voller Anmassung sind sie, geben sich als dieses und jenes aus, schlafen mit den Köchinnen, um ins Schloss zu kommen, und schaffen es doch nicht. Man weiss nicht, ob sie wirklich „verurteilt“ sind oder ob sie das Urteil träumen, weil sie sich selbst verdammt haben.“ (Seesslen 2000:267). Und wie Crane als fiktiver Autor es vormacht, haben auch die beiden Coens dem Film jene gebrochene Gedankenstruktur eingearbeitet. Die Kamera in „The Man Who Wasn’t There“ ist selber ein Moment unscharfer Beobachtung. Ihr Betrachten setzt mit dem phantasiebegabten Blick des Helden vereint eine Geschichte in Gang, die sich im fortlaufenden Beobachtetwerden ständig anders entwickelt, als eine klassische Genredramaturgie es vermuten lassen würde. Joel Coen sagt: „Vermutlich sind sie [die Coen-Filme] so hyperrealistisch, dass sie mit der Realität nichts mehr zu tun haben.“ (zit. nach Seesslen 2000:277). Und noch einmal Georg Seesslen: „Die Bilder, Bewegungen und Personen der Coen-Filme „wissen“, dass sie Gegenstand von Filmkameras sind, und sie reagieren darauf, indem sie ständig und überraschend zwischen ihrer Sinnbild- und ihrer Abbildhaftigkeit hin- und herschwenken. In einem Augenblick reagieren sie noch so irrational, einzigartig und bedingt wie ein „wirklicher Mensch“, im anderen sind sie reine Kino-Phantasien, die nur als Schatten des Lebens reagieren können, inmitten einer vorgegebenen Zeichenwelt, eines Textes.“ (Seesslen 2000:231).
Am Schluss ihres Films machen die Coens aus ihrem Helden augenzwinkernd ein Kunstwerk. Der Raum, in dem der elektrische Stuhl zu Ed Cranes Hinrichtung steht, ist weiss und ohne Ecken und Kanten. Ein White Cube eher oder eine transzendentale Matrix. Ed Cranes Geschichte erfährt die Apotheose in den Himmel der Kunstwerke. Und so war die Litfasssäule nicht nur Sinnbild einer fatalen Teleologie zum Tode, sondern zugleich wegweisende Vorwegnahme des zeitbeständigen Charakters eines Lebens, das durch seine Erzählung Kunst geworden ist.
Literaturverzeichnis
Baars, Günter; Christen Hans Rudolf: Allgemeine Chemie: Theorie und Praxis. Frankfurt/Aarau [Diesterweg – Sauerländer] 1995
Coen, Ethan: Falltür ins Paradies. München [Goldmann] 2001
Coen Ethan; Coen, Joel: The man who wasn’t there. 2001 http://www.allmoviescripts.com/scripts/6839927123f484c3699d13.html verifiziert am 28.03.04
Jung, Werner: Von der Mimesis zur Simulation. Eine Einführung in die Geschichte der Ästhetik. Hamburg [Junius] 1995
Kafka, Franz: Amerika. Frankfurt [Suhrkamp Taschenbuch] 1997
Seesslen, Georg: Spiel. Regel. Verletzung. Auf Spurensuche in Coen County In: Körte, Peter; Seesslen, Georg (Hrsg.) Joel & Ethan Coen. Berlin [Dieter Bertz Verlag] 2000, S. 229-298
Seesslen, Georg: O brother, where art thou? In: Körte, Peter; Seesslen, Georg (Hrsg.) Joel & Ethan Coen. Berlin [Dieter Bertz Verlag] 2000, S. 229-298
Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Frankfurt [Fischer] 2002
KNL/Verschiedene Autoren: Franz Kafka. In: Jens, Walter (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Band 9. München [Kindler] 1996