Ist Denken ein Kompliment? Eine Tagung zu Philosophie und Kino auf Lipari
Otar Iosseliani |
von Johannes Hossfeld |
Die Philosophen, die zurückgezogene Menschen seien und den Lärm meiden, tun schlecht daran, das Kino zu ignorieren, so gab Giovanni Papini 1907 zu bedenken. Sie sollten vielmehr das Kino zum Anlaß nehmen, neue Metaphysiken zu denken. Dazu ist es lange Zeit, trotz der frühen Ansätze etwa bei Paul Souriau oder Henri Bergson zu einer Zeit, als das Kino gerade im Begriff war, seine Ausdrucksformen zu finden, nicht gekommen. Vom Kino veranlaßte Metaphysiken wurden zwar in großer Zahl gedacht, von Schriftstellern, Künstlern, Journalisten, aber nur selten von Fachphilosophen, die die Herausforderung nicht angenommen hatten, über das noch neue Medium oder mit ihm zu denken. Dies hat sich inzwischen geändert. Das Verhältnis von Kino und Philosophie hat Konjunktur. Zumal seit den Kinobüchern von Gilles Deleuze denken Philosophen gerne über Film und Kino nach. Und selbst die Zurückhaltenden erklären schließlich, daß, wenn sie auch nicht über Kino geschrieben hätten, sie doch stets nichts anderes gemacht hätten als eben – Kino (so unlängst Jacques Derrida in den Cahiers du Cinéma ). Ein weiterer Beleg für das Interesse der Philosophie am Kino war eine Tagung mit dem Titel Il vento del cinema, die im Juni 2001 auf Lipari in Sizilien stattfand. In einer Umgebung, die zu den berühmten Filmkulissen gehört, sollten Regisseure und Philosophen über das Denken des Kinos nachdenken: Chi pensa il cinema – il cinema visto/pensato/amato/scelto dai filosofi , so lautete der Untertitel der Tagung, die von zahlreichen Filmvorführungen und der Verleihung zweier Filmpreise (Premio Stromboli und Premio Fuori Orario ) begleitet wurde.
Als Leiter der Veranstaltung firmierte Enrico Ghezzi, dessen Fernsehsendungen Blob und Fuori Orario in Italien Kultstatus genießen. In Fuori Orario hat Ghezzi eine Generation mit seltenen Autorenfilmen und seinen – Ghezzi würde wohl sagen: rhizomatischen – Reflexionen über Kino versorgt, während in Blob der Bildermüll des italienischen Fernsehens zu einer grotesken Tagesschau collagiert wird ( Blob ist eine der wenigen wirklich kritischen Sendungen im italienischen Fernsehen). Beide Sendungen waren offensichtlich Vorbild für die Organisationsform der Tagung. Gegeben waren drei Diskussionstage, ein Podium, schnurlose Mikrophone im Saal, reiches audiovisuelles Material und ein interessiertes Publikum – aber kein Programm etwaiger Vorträge, keine spezifischen Themen, kein Moderator (dieser Rolle verweigerte sich Ghezzi deutlich). Diese programmatische Offenheit war eine Stärke und eine Schwäche zugleich. Zwar gab der Titel Chi pensa il cinema? mit seinen verschiedenen Lesarten ausreichend Diskussionsanlaß: Kann das Kino denken? Kann das Kino Denken filmen? Was denken Philosophen anläßlich des Kinos? Wie denken Philosophen das Kino? Die Entscheidung, nichts Systematisches aufkommen zu lassen, sondern möglichst "polyphon" zu verfahren, führte jedoch oftmals zu chaotischen Situationen, kuriosen Momenten – etwa, wenn sich Publikum, Vortragende und Fernsehteams gegenseitig filmten, vorzugsweise mit kleinen Digitalkameras – und zu einigen abwegigen Beiträgen. Man war zu jeder Zeit gespannt, ob und wie es weitergehen würde.
Eines der wiederkehrenden Themen, das den drei Diskussionstagen eine gewisse Homogenität gab, wurde gleich zu Anfang von Pier Aldo Rovatti (Triest) angesprochen. Rovatti, der 1983 mit Gianni Vattimo den für die italienische Philosophie wichtigen Sammelband Il pensiero debole veröffentlicht hat und sich gerne an Deleuze orientiert, verwies darauf, daß Deleuze in seinen Kinobüchern die Frage nach der Lust am Kino vernachlässigt habe. Es sei eine Lust, und zwar die Lust an der Montage, die Kino und Philosophie vergleichbar mache. Auch die Tätigkeit des Philosophen, das Schreiben, sei nichts anderes als eine montierende, d.h. kinematographische Handlung. Deleuzes Denken des Kinos müsse um eine psychoanalytische Perspektive, die Deleuze aus Gründen persönlicher Vorbehalte vermieden habe, erweitert werden, um die Frage der Lust am Kino beantworten zu können. Maurizio Ferarris (Turin) trat dagegen mit der launigen These auf, Philosophie im Kino habe ihm schon immer die Lust verdorben. Ästhetischer Wert und philosophischer Inhalt seien gänzlich unverbunden. Er belegte dies mit einer Fallsammlung, die die platonische Idee der Koinzidenz von Denken und Schönheit widerlegen wollte: Je weniger Philosophie im Kino, desto gelungener der Film. Denken ist kein Kompliment, so Ferraris. So habe der schöne Film Barry Lyndon mit philosophischen Problemen nichts zu tun, während der gewiß nicht meisterhafte Babe ein zentrales Thema der philosophischen Tradition behandele. Eloge de l´amour von Jean-Luc Godard, der am Rande der Tagung den Premio Stromboli entgegen nehmen sollte, kurz zuvor jedoch abgesagt hatte, konnte Ferraris nur ein Ärgernis sein. Godards Film sei auf so penetrante Weise durchzogen von Philosophie-Zitaten, als ob Godard der Meinung sei, eine Lobrede auf das Kino bedürfe der Zustimmung der vermeintlichen Königin der Wissenschaften. Giorgio Agamben (Verona) griff Rovattis Wort von der Montage auf und setzte das Kino in Bezug zu Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas: Beide Darstellungsformen, so Agamben, dessen Buch Stanze: la parola e il fantasma nella cultura occidentale aus einem Forschungsaufenthalt am Warburg-Institut Mitte der 70er Jahre entstanden ist, bewahren die Imagination der Menschheit vermittels der Montage von Bildern. Agamben formulierte eine schon der frühen Filmtheorie wohlbekannte Ansicht: Das lange Warten der Bilder und Skulpturen (dieser Katatonikerversammlung, wie Döblin spottete) darauf, in Bewegung gesetzt zu werden, werde mit den bewegten Bildern des Kinos, deren eigentümlichen Status zwischen Stillstand und Bewegung Agamben mit Benjamins Begriff des dialektischen Bildes zu denken versuchte, beendet. In der Tat liegt der Zusammenhang zwischen Warburgs Bildtheorie und dem Kino nahe – und es mehren sich Ansätze, die das Kino mit Warburg denken, wie in letzter Zeit Texte etwa von Philippe-Alain Michaud, Maurizia Natali oder Didi-Huberman zeigen. Omar Calabrese hatte bereits beim Warburg-Symposium in Siena 1998 den faszinierenden Gedanken gefaßt, Eisenstein könnte den Mnemosyne-Atlas gekannt haben. Wie aber im Detail mit Warburg das Kino zu denken wäre und ob denn das Ende der Bewegungslosigkeit der Bilder im Sinne Warburgs hätte sein können, blieb wegen der Diskussionskonfusion unbeantwortet. Es wäre an Agamben die Frage zu richten gewesen, ob nicht die Potenzierung der Bewegung im Kino – die Verbindung der Bewegung im mit der Bewegung des Bildes –, mit Warburgs Kulturtheorie und der Konzeption des Bilderatlasses als eines Denkraum und Besinnungszeit schaffenden Distanzierungsversuchs von ergreifenden Bewegungsenergien, die für Warburg auf ambivalente Weise in Symbolen konserviert sind, eigentlich unvereinbar ist.
Distanzierende Funktion traut dagegen Emanuele Severino (Venedig) dem Kino durchaus zu. Auch für Severino, dessen Philosophie manche für den ebenbürtigen Gegenpol der Lehre Heideggers (so Massimo Cacciari), manche für eine lachhafte philosophiegeschichtliche Regression halten (so Massimo Mugnai ), beendete das Kino ein langes Warten. Das Kino (und das Warten, das dieses beendet) denkt Severino dabei mit zwei Autoren, die ihm seit jeher wichtig waren: Leopardi und Nietzsche. Das Kino sei eine langerwartete Antwort auf die Frage, die das Leben dem abendländischen Menschen stelle. Und das Leben ist gemäß der Grundstruktur der okzidentalen Kultur, wie sie Severino spätestens seit den 60er Jahren in seiner außergewöhnlichen Philosophie kritisch expliziert, die Nichtigkeit aller Dinge, die aus Nichts entstehen und in Nichts sich auflösen. Severino verwies darauf, daß sich die Kinematographie als ein Schreiben der Bewegung in dem Sinne verwirklicht habe, den die Griechen der Kinesis gegeben hatten: als Bewegung von dem, was nicht ist, über das, was ist, zu dem, was nicht ist. Damit ist dem Kino die Grundstruktur der westlichen Kultur eingeschrieben. Zugleich aber, so Severino in Übereinstimmung mit einem prominenten Motiv klassischer Filmtheorien, tritt das Kino an, auf die Grundangst eben dieser Kultur zu antworten: auf die Angst vor dem Nichts, vor dem Tode. Es ist diese Antwort, auf die die okzidentale Kultur lange gewartet hatte. Auf das Spektakel des Todes antwortet das Kino mit einem Spektakel der Bilder. Denn das Kino sei der moderne Ort des archaischen Festes, so Severino, der damit freilich eine Position wiederholte, wie sie in den 10er Jahren in ähnlicher Weise bereits von Ricciotto Canudo vertreten worden ist. Das archaische Fest umfaßte als eine Art Gesamtkunstwerk noch alle Bildformen und vermochte durch die Macht des Blicks auf das Spektakel des Todes die verissima pazzia (Leopardi) zwar nicht aus der Welt zu schaffen, aber doch auszuhalten. Mit der Transformation des archaischen Festes in die antike Tragödie und der Ausdifferenzierung in die einzelnen Bildformen der Künste habe das Bildhandeln des Menschen die Überzeugungskraft verloren, welche dem archaischen Fest zukam. Erst mit dem Kino gewinne das Bilderhandeln wieder jenen langvermißten kathartischen Effekt gegenüber der Angst vor dem Tode. – Ein Verbündeter von Severinos eigener Philosophie, so muß man wohl vor dem Hintergrund des Werkes von Severino hinzusetzen, kann das Kino jedoch nicht sein. Denn das Kino, wenn es derart von Severino gedacht wird, revidiert nicht den grundsätzlichen Irrtum abendländischen Denkens nach Severino, das Leben nicht als Sein, sondern als Werden aufzufassen. Seiendes ist für die abendländischen Zeitbewohner nach Severino zugleich als Nichtseiendes begriffen. Es oszilliert zwischen Nichts und Nicht-Nichts, weil es für Alteuropa in der Zeit ist, was bedeutet, daß es Nichts gewesen ist und Nichts werden wird. Diese Trennung des Seins vom Sein – ein Unterschied, den die Zeit macht – nennt Severino Nihilismus in einem fundamentalen, die tiefste Struktur okzidentaler Kultur betreffenden Sinne. Aus der Widersprüchlichkeit dieser ontologischen Grundstruktur und der ihr entsprechenden seinsvergessenen Entfremdung des abendländischen Menschen soll Severinos Philosophie hinausführen, die er gegen die philosophische und theologische Tradition mit einer Insistenz ausbildet, die wohl ihresgleichen sucht (vielleicht tritt noch Hermann Schmitz mit ähnlichem Gestus auf). Es ist dies ein Weg zurück zu einer parmenideischen Nichtabtrennbarkeit des Seins vom Sein, ein Weg hin zum Ort der Notwendigkeit, an dem die Dinge nicht entstehen und vergehen, sondern sind: Eine Art philosophische Relativitätstheorie also (so Severinos eigener Vergleich in einem seiner Texte), die das Sein gleichsam als Film in einer Filmrolle vorstellt, innerhalb der es hinsichtlich der Fotogramme kein non-ancor-essere und kein non-più-essere gibt, sondern bloß ein essere : alles ist schon immer, wird immer sein, ist ewig. Weshalb Severino auch den Tod nicht zu fürchten hat (so Severino kürzlich im Corriere della Sera) und im Rückgriff auf Parmenides ein Maß an Sophrosyne zu erreichen verspricht, das bereits Warburg undenkbar war.
Natürlich löst Severinos Grundgedanke heftigen Widerspruch aus (zur Debatte um Severino seit 1964, die hier nicht aufgegriffen werden soll, vgl. etwa die Diskussion in den Zeitschriften Rivista di filosofia neoscolastica und Verifiche seit 1964, die im Band Essenza del nichilismo von 1972 versammelten Dokumente, die Debatte mit Mugnai in Sole 24 ore und Corriere della Sera 1997 oder Severinos Briefwechsel mit der Kirche, den Severino kürzlich in Buchform veröffentlicht hat – Severino mußte wegen seiner Thesen seinen Lehrstuhl an der Cattolica in Mailand aufgeben). Auch auf Lipari kam es zu einer Debatte um den adäquaten Modus, nicht nur das Kino zu denken. Der Kulturanthropologe Massimo Canevacci (Rom) rief zur Freude des studentischen Publikums aus, Ursprünge wie das von Severino bemühte archaische Fest gebe es nicht. In dem Irrtum der traditionellen Geisteswissenschaften, Phänomene auf Anfänge zurückführen zu wollen, artikuliere sich der Ritus der Kontrolle, welcher die okzidentale Kultur kennzeichne, so Canevacci, der sich in seinen Büchern mit der Möglichkeit der Annahme von Ursprüngen, gerade auch des Kinos (sind Lumière/Méliès als Ursprünge anzusetzen?), kritisch befaßt hat. Um das Kino zu verstehen, helfen nicht Aristoteles, nicht Hegel, nicht Leopardi. Und überhaupt: das Kino im Singular, was solle dies sein? Man müsse gemäß der modernen Anthropologie pluralisieren statt vereinheitlichen, dezentrieren statt beherrschen, nicht Identität suchen, sondern die Differenz stark machen. Deshalb habe auch die (traditionelle) Philosophie nichts mit Montage zu tun (so Canevacci gegen Rovatti), sondern sei eher ein langer Sequenzplan. Hans-Jürgen Syberbergs Beiträge werden Canevacci wohl gefallen haben, war der vielbefragte Syberberg doch an Fragen nach Essenz und Usprüngen des Kinos kaum interessiert und reagierte auf die Diskussionen mit der Unbekümmertheit dessen, dem es um die eigene Poetik, nicht aber um philosophische Ästhetik geht. Massimo Donà (Venedig) argumentierte gegen die von Canevacci vorgebrachte These von der befreienden Macht des Differenzdenkens mit der Frage nach dessen Möglichkeitsbedingungen: wie solle denn Differenz ohne ein Konzept von Identität gedacht werden? Überhaupt sei, so Donà, der eine in dieser Hinsicht wichtige Hegel-Interpretation vorgelegt hat, mit einer Differenztheorie keine philosophiegeschichtliche Revolution zu machen, hätten doch die großen Philosophen seit jeher gewußt, daß es einen Ursprung als ein reines Positives nicht gebe.
In einem Seminar am Rande der Tagung zeigte Donà überdies, wie im Kino philosophische Probleme erörtert werden können. Eben die Problematik von Identität und Differenz verhandeln auch die Personen in Alain Resnais´ Film La vie est un roman, denen man auf ansprechendere Weise beim Denken zusieht, als Maurizio Ferraris es für möglich hält. Die Frage, ob sich Denken filmen lasse, war auch Thema angesichts von Filmen, die in den Tagen zuvor vorgeführt worden waren. Was passiert in den Filmen Roberto Rosselinis über Sokrates, Augustinus, Descartes, Pascal oder in Julio Bressanes Film über Nietzsches Aufenthalt in Turin, was in Safaa Fathys Film über Derrida oder in den gefilmten Vorlesungen von Gilles Deleuze, die von Marielle Burkhalter präsentiert wurden? Verhält sich nicht der Zuschauer zum gefilmten Philosophen wie Derrida zu den Fischen im Aquarium, die er in Safaa Fathys Film D´Ailleurs Derrida zu besuchen pflegt und über deren Denken er sich befragt? Der brasilianische Regisseur Julio Bressane verdeutlichte seine Auffassung von der Unübersetzbarkeit jeglichen Denkens durch einen ausführlichen Vortrag in portugiesischer Sprache und war von keinem Hinweis auf das Fehlen eines Übersetzers davon abzubringen.
Nicht Denken filmen, sondern gewissermaßen filmend denken wollte dagegen Peter Sloterdijk (Karlsruhe), der auf Lipari weit weniger umstritten dachte als in Basel und auf Schloß Elmau; das Verhältnis von Philosophie und Kino ist sicher ein "Ungedachtes", aber gewiß nicht das "Unumgängliche" (so Sloterdijk auf Schloß Elmau), dessen Spuren aufzulesen gefährliches Denken bedeuten würde. Trotzdem gelang es Sloterdijk, das Publikum (das übrigens auch dieses Mal Schwierigkeiten hatte, zwischen Paraphrase, Ironie und des Autors Meinung zu unterscheiden) mit seiner These zu interessieren, zwischen Philosophie und Kino gebe es keinen direkten, aber einen indirekten Bezug. Denn das Kino nahm Sloterdijk als Bild für einen neuen Denk- und Lebensmodus, den er wie üblich mit Nietzsche gegen Platon ausprofilierte. Sloterdijk erinnerte daran, daß Platons Höhlengleichnis ziemlich genau eine Kinovorführung vorstellt. Damit war Sloterdijk keineswegs auf der Suche nach antiken Ursprüngen des Kinos (wie Severino), sondern nach Bildern für eine "polyphone" Philosophie. Entscheidend ist für Sloterdijk bei Platons Gleichnis, daß der Philosoph aus dem Kino hinausstrebt, hinaus in die intelligible Sphäre der Bewegungslosigkeit, in der die Individualität aufzulösen ist, um es dem ruhigen und unendlichen Blick Gottes (wenn er Augen hätte) nachzutun. In der Moderne, in der die Philosophie die Bewegung wieder lieben gelernt habe, verbleibe der Philosoph im Kino. Das Abenteuer der modernen Philosophie sei ein antiplatonisches Experiment, in der Höhle zu bleiben und die Welt als endliche, perspektivische und bewegliche Welt anzunehmen. Heute müsse man derridianisch sagen: Es gibt kein Jenseits des Kinos, keine obligatorische Projektion, keine singuläre Wahrheit, keinen Standpunkt in einem Außerhalb (eine These, die kritische Fragen nach dem Standpunkt der Erkenntnis Sloterdijks provozierte). Sloterdijk erinnerte an die Projektzeichnung eines Rundum-Kinos aus den 20er Jahren (die in Sloterdijks Buch Globen abgedruckt ist), erweiterte sein Kino jedoch um unendliche viele Säle: Wir befinden uns, so Sloterdijk, in einem weiträumigen Multiplex-Kino, in dem wir lernen, daß die Pluralität nicht als Irrtum im Saal entsteht, sondern bereits ontologisch angelegt ist. Gelassenheit – im Sinne Heideggers – im Umgang mit der (eigenen) Endlichkeit und der Bewegung der Welt ist das Ziel dieser "athletischen" Denkübungen namens Philosophie.
Leider ist es nicht zu einer Diskussion zwischen Severino und Sloterdijk gekommen. Man hätte gerne Näheres erfahren darüber, was sich Sloterdijks ontologischer Pluralismus und Severinos Rückkehr zu Parmenides (so der Titel eines zentralen Textes von 1964) zu sagen gehabt hätten. Während für Sloterdijk das Kino ein neues Treffen von Bewegung und Denken verheißt, ist für Severino die Annahme einer Bewegung der Dinge gerade der fundamentale Fehler der okzidentalen Kultur und das Kino ein letztes Fest zu seiner Kompensierung. Wo Sloterdijk mit Nietzsche gegen Platon denkt, ist für Severino der eben deshalb hochgeschätzte Nietzsche keineswegs der Anfang vom Ende, sondern die letzte und radikalste innere Konsequenz des fatalen okzidentalen Denkens.
Ganz im Gegensatz zu solchen Treffen von Denken und Kino stand der Beitrag des sizilianischen Philosophen Manlio Sgalambro. Sein Auftritt erregte nicht nur Aufsehen, weil er von dem in Italien sehr bekannten Sänger Franco Battiato begleitet wurde, für den er Liedtexte schreibt, sondern auch, weil Sgalambro Warnungen ausrief, die aus der Perspektive von "schwachen" Denkern wie Rovatti, Canevacci oder Sloterdijk aus vergangenen philosophischen Epochen zu kommen scheinen mußten: Bada all´ immagine! Auch Sgalambro erzählte wie Severino von Schicksal der Bilder, aber nicht mit einem guten Ende: Sei ursprünglich das Bild Angelegenheit der Mythologie gewesen, so sei heute, in dieser età della miseri a, der Film der Ort der Bilder. Dabei sei das Bild, seit jeher der Sündenfall des Denkens, zum Komplizen dieses Zeitalters geworden: Die technischen Bilder des Films bedeuten eine Absolutierung des Bildes und damit eine Entwirklichung des Gezeigten.
Einen vergleichbaren Vorbehalt griff später auch Emanuele Severino auf, der damit seine Deutung des Kinos um eine Rückseite erweiterte. Severino sprach zwar nicht von Entwirklichung, aber von einer Austreibung der Inhalte aus der Technik. Denn die Gefahr des Filmes als Wiedergeburt des archaischen Festes sei, dabei aus dem Geiste der Technik geboren zu werden. Damit knüpfte Severino an seine langjährige Technik-Kritik an, nach der sich die großen Kräfte der okzidentalen Tradition (Christentum, Aufklärung, Kapitalismus, Kommunismus etc.) in einem Konflikt befinden, der nicht theoretisch, sondern praktisch ausgetragen werde in einem Kräftemessen der eingesetzten Machtinstrumente, d.h.: der Technik. Die Vorstellung der Technik als Mittel des Menschen sei jedoch eine Illusion. Es ist, so Severinos Fassung einer Dialektik der Aufklärung, die Technik, die sich der ideologischen Kräfte und ihrer Inhalte bedient; das Bild ist nichts anderes als der Ort der Anerkennung dieser Macht der Mittel, die ihre technische Potenz zelebrieren. Dies sei die tiefere Bedeutung von McLuhans The medium is the message . Und dies sei der Grund, warum vom Kino kaum in inhaltlicher Hinsicht die Rede sei: es liege in der Ordnung der Dinge, daß die zelebrierte Macht der technischen Bilder Fragen nach dem ideologischen Inhalt der Bilder nicht mehr aufkommen lasse. Das Kino könne seiner außerordentlichen Funktion als Wiedergeburt des archaischen Festes nur nachkommen, wenn es Widerstand gegen die Technik leiste.
Es regte sich keineswegs Unmut gegen die Technikskepsis dieser Theorie – ein Zeichen, daß Medieningenieurswissenschaften doch hauptsächlich nur im deutschsprachigen Bereich in Mode sind oder waren. Man bemühte sich vielmehr, den Film nicht nur als Technik zu denken. So brachte Massimo Donà seine Theorie vom künstlerischen Tun als fare perfetto auch fürs Kino in Anschlag. Das Kino gehe nicht ganz in Technik auf, sondern sei ebenfalls im Horizont der Künste zu denken. Während das Tun der techné ein auf Wissen beruhendes, auf ein utopisches telos ausgerichtetes und deshalb stets unvollkommenes Tun sei, habe das künstlerische Tun keine Zwecke und zeichne sich deshalb durch eine Perfektion aus, welche der Technik verwehrt bleibe. Als Kunst entziehe sich das Kino der techné . Für den Filmkritiker Edoardo Bruno (Rom) ist Kino mit seinen Ausdrucksformen sogar des Denkens fähig und könne – so Bruno umstandslos – ohne weiteres Philosophie betreiben. – Sind die Filme der palermitanischen Zyniker Ciprì und Maresco, die am ersten Abend der Tagung den Premio Fuori Orario erhielten, Philosopheme, wie Bruno meinte? Betreibt Otar Iosseliani, der anstelle von Godard am zweiten Abend den Premio Stromboli erhielt (Godard wird nächstes Jahr Preisträger sein), mit seinen Filmen Philosophie? Ist Artavazd Pelesjan, dessen beeindruckendes Werk fest vollständig gezeigt wurde, ein Philosoph? Emanuele Severino hatte Philosophie als eine Analyse das Unbewußten allen Denkens definiert; wenn aber dem Kino, wie Régis Debray in Vie et mort de l'image schreibt, für das 20. Jahrhundert "psychoanalytische Funktion" zukommt, dann wäre das Kino, das mit Bildern zu sprechen es wohl leichter hat, die Philosophie des gerade vergangenen Jahrhunderts gewesen? Die Tagung soll im nächsten Jahr fortgesetzt werden, die Fragen werden ihr nicht ausgehen.