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Kino, Kunst und Massenkultur

Herbert Hrachovec

Filmbuchläden unterscheiden sich auf den ersten Blick vom geistes- oder sozialwissenschaftlichen Fachhandel. Reich illustrierte Monographien über berühmte Hollywood-Stars, luxuriöse Rückblicke auf die Entwicklung bestimmter Genres, Journale, die den neuesten Produktionen gewidmet sind und eine Videoabteilung bestimmen den Eindruck. Publikationen zur Filmwissenschaft stehen vergleichsweise bescheiden in einer Ecke. Als ob in der Abteilung für Fremdsprachen Bildbände des betreffenden Landes den Vorrang vor Wörterbüchern behaupteten. Wie kommt die Fachliteratur zum Film in diese Randlage?

Die Antwort liegt auf der Hand und markiert eine Besonderheit des kulturellen Umgangs mit dem Kino. Die Attraktivität eines Romanes liegt im Buch; die Attraktivität des Kinos wird dagegen im Buch bloß gespiegelt. Für diese Wiedergabe gelten eigene Gesetze und ähnlich sieht es mit vielen Versuchen aus, den Vorgang einer Filmvorführung sprachlich zu fassen. Kino bietet einen Überschuß an Sinnlichkeit, dem gegenüber der analytische Zugriff blaß und abgeleitet erscheint. Die Sprache steht in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zum bewegten, dramatisierten Schaubild. Sie kann seine Nachwirkungen zelebrieren oder sie kritisch prüfen. Gleich auf gleich antwortet sie nicht.

Mit Musik und Skulpturen verhält es sich nicht anders, doch deren Einbettung in das europäische Wertsystem hat eine längere Geschichte. 1913 wird sie vom Dresdner Publizisten Hermann Häfker gelinde ironisiert:

Ehedem thronten in ihren Tempeln erhabener Würde die Künste: Musik, Malerei, Bildhauerei, Dichtkunst, Baukunst. Der Widerschein der Schönheiten, die sie schufen, fiel spärlich und milden Glanzes auf das ganze Alltagsleben, seine Gebrauchsgegenstände und seine geistigen Äußerungen. Gelehrte stritten sich um höchste Schönheit und echten Stil, Kirchen, Fürsten und Reiche führten den ,Geschmack' (Häfker, 1992, S. 89f).
Das waren Umstände, unter denen berufene Fachleute sich noch Gehör verschaffen konnten. ,,Heute`` -- also 1913 --
ist diese Zeit auf Niewiedergewinn verloren. Bildmäßiges und Plastisches, Wort und Klang, Farben und Linien, früher die Wahrzeichen jener Festtagskunst, strömen wie Hagelwetter auf die Nerven des modernen Menschen ... ein (Häfker, 1992, S.90).

Solchen Attacken auf die Sinne stand die Buchkultur zu Beginn des Jahrhunderts ratlos gegenüber. Inzwischen hat sich viel verändert. Das Hagelwetter produziert auch die Resistenz gegen den Ansturm, Kinofilme sind schon lange nicht mehr die aktuellsten Angstgegner der Kulturwächter, literarische Prädispositionen der Gesellschaft wurden um Medienkompetenz ergänzt. Ist die zitierte Desorientierung aus gegenwärtiger Sicht mehr als ein Kuriosum?

Die Beobachtung im Filmbuch-Laden ist ein Indiz dafür, daß sich die Reflexion über das Phänomen seiner Eindringlichkeit gegenüber nach wie vor schwer behauptet. Filmtheorie ist zwar eine akademisch respektable Disziplin geworden, aber sie gleicht auf weite Strecken einem konzeptuellen Flohmarkt. Man muß den anti-postmodernen Affekt Noël Carrolls nicht teilen, um seiner Diagnose etwas abzugewinnen.

Die Universitäten betrachteten Filmstudien-Lehrgänge als ökonomischen Gewinn zur Steigerung der Nachfrage und in diesem Zusammenhang spielte die sogenannte ,Theorie' in der Entwicklung von Filmlehrgängen eine ökonomische Legit­ imierungsrolle. Denn das Angebot unter dem Titel ,Theorie' war sicher abstrus genug, um laienhafte Administratoren und zögerliche Aufsichtsorgane (im Original ,,trustees`` H.H.) davon zu überzeugen, daß Filmstudien mindestens die intellektuelle Komplexität der ,string theory', DNS oder von Hypothesen über parallele Hochleistungsprozessoren erreichten (Bordwell and Carroll, 1996, S. 37, Prospects for Film Theory: A Personal Assessment.).

Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis einer Literaturübersicht ,,deutschsprachiger Publizistik der Film- und Fernsehwissenschaft`` 1998 bestätigt den Eindruck, die Disziplin stecke tief im Stadium des Jagens und Sammelns. Dies ist die Abfolge der Übertitel (Wulff, 1998):

Die Auseinandersetzung mit dem Kino hat ein weites Spektrum herkömmlicher Disziplinen erfaßt. Doch zwischen ihnen scheint das Thema gänzlich verstreut. Die Desorientierung der ersten Stunde hat sich, so legt das Beispiel nahe, in der Rezeption erhalten. Zwar fehlt es nicht an anspruchsvollen Systemansätzen; das Problem besteht darin, daß sie nach Modeströmungen wechseln. Beim Versuch, die Rolle des Kinos im kulturellen Kontext zu bestimmen, ist nach wie vor mit massiven Unsicherheiten zu rechnen.

Die folgende Orientierung kann sich aus diesen Gründen nicht an einen konsensuell verbürgten Rahmen halten. Sie wählt -- zugegeben subjektiv -- drei Themenkomplexe, um ein Bild der aktuellen Problemlage zu zeichnen. Zunächst die alte Frage, inwiefern Film Kunst sein könne. Die positive Antwort hat Generationen von Kinobesucherinnen eine neue Erfahrungswelt erschlossen. Doch diese Einstellung ist neuerdings unter Druck geraten. ,,Kunstfilme`` passen schlecht ins Cineplex; sie sammeln sich im Filmmuseum. Medien in Echtzeit, vornehmlich Fernsehen und digitale Vernetzung, sind dabei, die Filmrezeption nachhaltig zu re-kontextualisieren. Diesen Umstand soll eine Hommage an den britischen Autor von Filmen und Fernsehserien, Dennis Potter, hervorheben. Das prekäre Verhältnis von Filmkunst und Massenmedien ist durch seine Beiträge für kurze Zeit selber zu einem Thema der Massenkultur geworden. Erwartungsgemäß war die Intervention von kurzer Dauer. Der 24-Stunden-Betrieb auf Dutzenden Kanälen reißt Einzelpositionen mit sich fort. Dennis Potter, der es verstanden hatte, den Prozeß anzuhalten, blieb vom ,,Verlust der Aura`` nicht verschont. Dieser Topos bildet den dritten Orientierungspunkt. Schon der zitierte Hermann Häfker hatte die technischen Vorbedingungen der Massenkommunikation betont.

Massenhaft ... ist schon die Erfindung, die dem meisten dieser Art zugrunde liegt. Das ist das eine Eigentümliche. Und diese Massenerfindung wird nun -- das ist das zweite -- mit einem geringsten von Menschenmühe, automatisch-chemisch- maschinell vervielfältigt (Häfker, 1992, S. 91).

Zentral ist in diesem Zusammenhang natürlich Walter Benjamins berühmter Aufsatz. Dessen emanzipatorische Absicht steht freilich in schmerzlichem Kontrast zum Resumee des in Oxford und in der BBC erfolgreichen Proletarier-Sohnes Dennis Potter. Die Formulierung ,,Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit`` kann unerwünschte Nebenwirkungen auslösen. Der Umgang mit diesem Topos, der in der Mediendebatte nach wie vor lebendig ist, bedarf der Revision.

Künstlerisch wertvoll?

Der Protest von Seiten der Buchkultur klingt heute antiquiert. Dennoch trifft er einen Punkt, der noch immer nicht erledigt ist.

Bei Lesen können wir beliebig Halt machen, Kritik üben, uns durch Nachdenken und geistige Verarbeitung von dem drückenden Inhalt des Schundromans befreien. Anders im Kino. Die rasche Folge der aufregenden Bilder steigert die gemütliche Spannung ins Unerträgliche, es bleibt dabei keine Zeit zum Nachdenken und damit zum psychologischen Ausgleich (Gaupp, 1992, S. 66).

Was Robert Gaupp als nachhaltige Erschütterung des Nervensystems bei Kindern und sensiblen Menschen prophezeite, ist unter Medienpsychologinnen, Kultursachverständigen und Politikerinnen (m/w) noch immer kontrovers. Ein Ergebnis kann allerdings als gesichert gelten. Um es im Jargon der besorgten Kritik zu sagen: Es gibt den guten Film. Weniger anzüglich formuliert: Die Entwicklung sowohl der Kinoproduktion, als auch der Filmtheorie seit 1910 hat die Befürchtungen widerlegt, das kinematographische Bewegungsbild eigne sich nicht zur ästhetischen Gestaltung. Man sollte über die damaligen Unkenrufe nicht allzu streng unrteilen. Nach einigen Vorführungen digital generierter und nachbearbeiteter Soundtracks ist mir zweifelhaft, ob daraus jemals Kunst wird. Filme haben den Test jedenfalls glänzend bestanden. Die ästhetischen Arbeiten zur Erschließung der neuen Kunstgattung durch Theoretiker wie Béla Balász, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer und André Bazin sind Standardlektüre geworden ( Ein Reader zur Einführung: Wuss (1990)). Auch Durchschnittsrezipientinnen (m/w) sind gegenwärtig in der Lage, die formalen Mittel zu benennen, die aus unbearbeitetem Bildmaterial artifizielle Welten machen, von denen einige den Titel ,,Kunst`` verdienen.

Die Kriterien, nach denen diese Zuschreibung erfolgt, sind hier im Einzelnen nicht vorzulegen. Zu Orientierungszwecken beschränke ich mich auf den sogenannten ,,Autoren-Fim`` und reduziere die Pointe zusätzlich auf eine Kurzformel. Sie variiert einen berüchtigten Slogan: ,,Film-Autor ist, wer über den Endschnitt verfügt.`` Die Institutionen des Studio-Systems und die Verantwortlichen für die Finanzierung der Unterhaltungsindustrie haben eine Reihe operativer Entscheidungsverfahren zur Herstellung der Ware ,,Film`` entwickelt. Dagegen steht -- idealtypisch -- der Autoren-Film, für den eine identifizierbare Einzelperson ,,die Regie übernimmt``. Das späte Werk Stanley Kubricks ist ein Beispiel. Berühmte Kontroversen zwischen ambitionierten Regisseuren und den Vertretern der Filmindustrie entzünden sich am Happy End. Ob Ingrid Bergman in Roberto Rossellinis ,,Stromboli`` den Weg zu ihrem Mann zurück findet, oder ob Ridley Scotts ,,Blade Runner`` selbst ein Klon ist, sind symptomatische Konflikte. Autoren produzieren Texte, d.h. physisch limitierte Schriftstücke, durch die sie bestimmte Absichten mitzuteilen suchen (Vgl. den Beitrag Paisley Livinstons Cinematic Authorship. In: Allen and Smith (1997, S. 132ff)). Im Kunstfilm tritt die endgültige Schnittfassung, deren Kopien die Kinos vorführen, an die Stelle des Schriftstücks. Bestimmend ist für Narrationen, was, wann, und in welcher Abfolge, erzählt wird, insbesondere aber, worauf die Geschichte hinausläuft. Die Kontrolle über diesen Verlauf ist eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung für die Produktion eines Autoren-Films.

In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein ,,Filmkunstwerk`` nicht von Büchern oder Gemälden. Das Bankfoyer, in dem van Goghs ,,Sonnenblumen`` ausgestellt werden, tangiert das Bild nur äußerlich; ob Hitchcocks ,,Vertigo`` in kleinem Kreis oder im Massenauditorium vorgeführt wird, tut nichts zur Sache. Das ändert sich nachdrücklich, wenn Filme im Fernsehen gezeigt werden. Die Wahrnehmung dieses Kontrastes schärft den Blick für rezente Umschichtungen im Bereich der Massenmedien und insbesondere für die Zerbrechlichkeit des Begriffes ,,Filmkunst``. Oberflächlich betrachtet scheint das Kinoprogramm kaum anders zu funktionieren, als die Programmleiste ,,Kino im TV``. Doch dieser Eindruck verstellt die entscheidende Charakteristik des Fernsehens. Der Bildschirm fungiert, wie Samuel Weber treffend bemerkt hat, nicht wie die Kino-Leinwand als singuläre Projektionsfläche. Er bildet das Interface zu einem Gerät, das dazu konstruiert ist, permanent Signale zu empfangen.

Was sich allerdings hinter den vom Fernsehen übertragenen Abbildern versteckt, ist weder Bild noch Gegenstand noch Erscheinung, sondern vor allem die Fähigkeit, Abbilder herzustellen - im wörtlichsten Sinne (Weber, 1994, S. 79).

Weber meint: Abbilder in den Wohnraum zu transportieren, audio- visuelle Impulse zu senden. Angesichts dieses technischen Dispositivs spielen einzelne Bildgestalten eine verhältnismäßig geringe Rolle.

15 Versionen der ,,Sonnenblumen`` im selben Raum - das ändert wohl etwas am Status des Einzelbilds. Noch drastischer ist der kontextuelle Einfluß, dem ein klassischer Film unterliegt, der im Fernsehprogramm läuft. Ganz abgesehen vom sogenannten ,,künstlerischen Anspruch`` gerät er in eine tiefgreifend verwandelte Umgebung. Der Filmbesuch dreht sich um das Kino, umgekehrt passen sich Fernsehen (und digitale Kabeltransmissionen) weitgehend den Bedürfnissen der Benutzerinnen (m/w) an. Das Kino kann man nicht mit sich herumtragen. Die Projektion auf der Leinwand etabliert einen Fokus, der im gesellschaftlichen Umgang mit Fernsehbildern fehlt. Ein Film hat Anfang und Ende, das Fernsehen ist ununterbrochen auf Sendung. Seine typischen Produktionen sind in die Zukunft offene Fortsetzungsgeschichten: der Wetterbericht, die Champion's League, das Expertengespräch. Das Kino hat vom Theater die Synthese dreier unterschiedlicher Zeiten übernommen. Die Zeit der Filmerzählung, die Projektionszeit und die Lebenszeit des Publikums fallen zusammen. Die technische Vorführung koinzidiert mit der Erstreckung einer narrativen Entwicklung und beides definiert eine präzis bestimmte Zeitspanne für Rezipientinnen (m/w). Das fällt im Fernsehen auseinander. Zwar erfordert auch dort die Filmzeit eine Projektionszeit, doch dieser Vorgang bestimmt keinen Zeitabschnitt für Fernsehteilnehmerinnen (m/w). Die Sendezeit ist nicht gleich der Zeit, die im Kino verbracht wird. Nach dem Ende eines Films im Fernsehen muß man den Empfänger extra abstellen.

Diese Verschiebung eröffnet ein neues Regime für Wahrnehmungsimpulse. Film-Autoren, die über den Endschnitt verfügen wollen, werden durch sie prinzipiell unterwandert. Eine Position im Programmschema eines TV-Senders ist nicht vergleichbar mit der Vorführung in einem Kino. Samuel Weber führt aus, daß es sich dabei nicht um Äußerlichkeiten, sondern um einen Unterschied des Darstellungsmediums insgesamt handelt.

Die Kunst vollzieht sich, indem sie sich als Einzelwerk sin­ gularisiert. Dasselbe gilt noch für die neuen Medien des Films und der Photographie. Erst beim Rundfunk ändert sich die Bedeutung des Werks, und diese Veränderung bestätigt sich beim Fernsehen. Fragt man also, was beim Fernsehen zugeschaut wird, so lautet die Antwort: vor allem dem Fernsehen selber (Weber, 1994, S. 85).

In Webers einprägsamer Wendung sieht man sich einen Film an, beim Fernsehen sieht man zu. Autoren verlieren eine Möglichkeit, die Grenzen ihrer Texte mit der Erstreckung des Mediums zusammenfallen zu lassen, das sie vermittelt. (Eine ähnliche Transformation gilt für das Verhältnis vom Buch zum Hypertext.) ,,Während das Kunstwerk als Produkt oder Ausdruck eines Subjekts bestimmt wurde, erscheint die Sendung als Manifestation des Mediums selbst - d.h. als Übertragung`` (Weber, 1994). Um einem Mißverständnis vorzubeugen: Dieser Umstand ist zunächst einmal neutral zu beschreiben. Kunststoff ist vielseitig und selbstverständlich ästhetisch verwendbar, zum Schnitzen eignet er sich aber nicht. Massenmedien, die global mit Echtzeit operieren, bieten einen neuen Referenzrahmen, keine Verbesserung oder Verschlechterung im alten.

Vor dem veränderten Hintergrund ist allerdings - darauf steuerten die Anmerkungen zur medialen Besonderheit des Fernsehens hin - die Frage neuerlich aufzurollen, inwiefern Film Kunst sein könne. Defensiv mag darauf verwiesen werden, daß Medien einander niemals ersetzen. Sie konfigurieren sich neu und insoferne bleibt sicher ein Platz für den Autoren-Film. Die Zuversicht, daß sich auf diese Weise auch in Zukunft kunstvolle Exemplare der geläuterten ehemaligen Jahrmarktsunterhaltung massenhaft durchsetzen, ist jedoch deutlich erschüttert. Die Zeit des ,,anspruchsvollen europäischen Films`` scheint vorbei zu sein. Unter dem Druck des Oligopols der Informations- und Unterhaltungsindustrie entsteht eine ähnliche Konstellation - und ein ähnlich alarmisierter Tonfall - wie zu der Zeit, als das Kino die Buchkultur zu bedrohen schien. Mit einer vornehmen Invektive endet Samuel Webers Reflexion: ,,Indem die Fernsehbilder zusammengetragen werden, werden sie zugleich zerstreut. Darin liegt wohl die Besonderheit seiner (i.e. des Fernsehens) anderen Sicht, die auch ,Blindheit' heissen könnte. (Weber, 1994, S. 86)`` Der nächste Punkt diskutiert das Beispiel eines Autors an der Schnittstelle zwischen Kinozeit, Sendezeit und Lebenszeit.

Foto-Finish

Der britische Schriftsteller und Regisseur Dennis Potter wurde durch Romane, Reportagen und Drehbücher für Film und Fernsehen bekannt. Die von ihm verfaßte TV-Serie ,,The Singing Detective`` aus dem Jahr 1986 ist ein wiederholt ausgestrahltes Meisterwerk. Beginn 1994 diagnostizierten die Ärzte einen Krebs der Bauchspeicheldrüse und gaben ihm maximal drei Monate zu leben. Fünf Wochen später führte Melvyn Bragg mit Potter ein Fernsehgespräch, das legendär geworden ist. Ein Glas Champagner und Morphium aus dem Flachmann unterstützten Potter bei einer tour de force durch die Erfahrungen eines linken britischen Intellektuellen und Film-Autors in der Zeit seit dem 2. Weltkrieg. Der Grundton des Interviews ist fröhlich, beinahe euphorisch, doch an zentraler Stelle sieht Potter schwarz. Seinen Krebs hat er ,,Rupert`` getauft, nach Rupert Murdoch, den er für den Verfall der öffentlichen Kultur im Land verantwortlich macht.

Die allgemeine Kommerzialisierung bedeutet natürlich, daß man alles mit einem kommerziellen Wert versieht und vom Staatsbürger zum Konsumenten wird. Politik ist dann ein verkäuflicher Ware, das geschieht im Moment. Sehen Sie sich die BBC an, sehen Sie sich an, was im Fernsehen ganz allgemein geschieht, sehen Sie sich die Eigentümer an. Die Argumentation angesehener liberaler Kommentatoren über Größe, über die ,,economy of size`` sind in Wirklichkeit Unsinn. Eine TV-Sendung kostet, was ihre Produktion kostet, das kann eine winzige Firma machen. Sie sprechen über den Besitz der Kommunikationsmittel, über Massenmedien, wie David Priestley es nannte. Sie sprechen letztlich über politische Kontrolle. Wie kann es eine reife Demokratie geben angesichts der zunehmenden Verflechtung der Eigentumsverhältnisse an Zeitungen, traditionellem Fernsehen und Kabelfernsehen? Wo werden unsere Freiheiten garantiert werden? Wer wird sie schützen? Sehen Sie sich die Auswirkungen all dieser Firmenübernahmen an. Es geht nicht um einzelne Sendungen. Die Welt, als Sie oder ich zum Radio oder Fernsehen kamen - ich sage nicht, sie sei nicht paternalistisch gewesen, ich sage nicht, sie könne unverändert erhalten bleiben und ich sage nicht, daß Änderungen vermeidlich sind - diese Welt beruhte auf Voraussetzungen, die heute beinahe lachhaft geworden sind. Als ich zum Fernsehen kam, hatte ich Entwicklungsspielraum, darum widmete ich ihm mein Arbeitsleben und bin weitgehend beim Fernsehen geblieben. Würde ich heute anfangen - wo würde ich diese Chance erhalten? ... Wo ist ein einziges Stück? ... Man kann den Knopf drücken. Man kann die Abfolge der Einstellungen im voraus angeben. Die Klischees im Fernsehen entstehen durch die Verkaufszahlen ... sie werden bald ... dann können sie alle fünf Sekunden sagen, wer abschaltet. Der Druck auf schöpferische Personen, ob das Autoren, Regisseure, Schauspieler, Designer oder Produzenten sind, wer auch immer, dieser Druck geht dahin, zu jedem beliebigen Zeitpunkt die maximale Zuschauerzahl zu gewinnen. Das ist genau das Gegenteil davon, etwas zu entdecken, das man noch nicht gekannt hat. Genau das Gegenteil der Radio- und Fernsehsendungen, die das britische Leben so großartig machten (Potter, 1995).

Die düsteren Prognosen Potters erinnern an den Kulturpessimismus, der das erste Auftreten des Films begleitete. Man kann das negative Fazit allerdings nicht auf Unkenntnis oder elitäre Vorurteile zurückführen. Die Situation, die Potter Mitte der 90-er Jahre umreißt, entsteht, nachdem sich der Film als Kunst-Medium bewiesen hatte und darin theoretisch entsprechend gewürdigt worden war. Potter der Schwarzmalerei zu bezichtigen ist ein billiger Ausweg. Seine Thesen signalisieren eine Entwicklung, die neuerlich die Anstrengung verlangt, mit der die Herausforderung eines Massenmediums zu Beginn des Jahrhunderts aufgenommen worden ist. Und diesmal reicht es nicht, das kinematographische Bewegungsbild sachgerecht zu bewerten.

Die Standards, denen die Produktion und Distribution von Bildern überhaupt folgt, sind erschüttert. Der Fall eines Film-Autors am Rand der Unterhaltungs-Imperien zeigt das exemplarisch. Selbst klassische Filme sind im Fernsehen von der Zerstückelung durch Kürzung, Werbung und Verschnitt betroffen. Für jemanden, der gegenwärtig unter diesen Bedingungen Kunst produzieren will, stellen sich harte Fragen. Noch niemals war die Willkür mannigfaltiger Bildproduktionen derart verbreitet; die kommerzielle Verwertung von ,,Kultur`` hat gigantische Ausmaße angenommen. Es steht jedem frei, im gesicherten Terrain ,,künstlerisch wertvoller Filme`` zu verbleiben und den gängigen TV- Konsum, die Video-Games der Jugendlichen, sowie Computersimulationen künstlicher Welten auszublenden. Doch aus dieser Position hat man kein Recht, abschätzig auf Personen zu blicken, die sich der Überforderung aussetzen.

Dennis Potter hat es in einem Kraftakt, für den Vergleiche fehlen, versucht. Die Krebsdiagnose traf ihn bei der Arbeit an einer vierteiligen Serie für die BBC. Die Konkurrenz, Channel Four, hatte eine weitere Serie bei ihm in Auftrag gegeben. Im Interview richtete er sich an die Programmchefs der beiden Sendeanstalten. Er forderte sie auf, ihm angesichts seiner Verdienste für das Fernsehen einen letzten Wunsch zu erfüllen und die beiden Serien gemeinsam zu produzieren. Das wurde sein Vermächtnis in einem Medium, das immer schon über Vermächtnisse hinweg ist. Inhaltlich drehen sich ,,Karaoke`` und ,,Cold Lazarus`` um Obsession mit Erinnerung und der aus ihr gespeisten Autorenschaft, beides gefährdet durch die Enteignung der Bilder, deren die memoria bedarf. Potter hat sich im Resumee seines Schreibens direkt auf die Bedingungen bezogen, unter denen Film- und Fernsehproduktionen stehen. Die Inszenierung seines Testaments ist zugleich eine Stellungnahme zur Ohnmacht des Autoren-Films.

Für Daniel Feeld, den Hauptdarsteller von ,,Karaoke'', verschwimmt die Wirklichkeit und die Kunstwelt des Drehbuchs, nach dessen Vorgabe im Film ein Film hergestellt wird. Er begegnet Personen, die seine Texte sprechen, und fürchtet, sie jenem Schicksal auszuliefern, das er für sie phantasiert hat. Die junge Frau, der zuliebe er einen ausbeuterischen Barbesitzer erschießt, verkörpert drei Dimensionen. Sie evoziert Jugenderinnerungen -- welche in die schriftstellerische Arbeit eingehen -- die sich ihrerseits episodenweise im aktuellen Lebenszusammenhang realisiert. Daniel Feeld ist Krebspatient und nimmt seine mentalen Überlagerungen in den Tod mit. 400 Jahre später, so beginnt ,,Cold Lazarus``, experimentiert ein Team von Wissenschaftlerinnen (m/w) mit seinem kryotechnisch präparierten Kopf. Die Aussicht, ihm Erinnerungen aus jener lang zurückliegenden Epoche zu entlocken, läßt sich ein Medien-Mogul nicht entgehen. Er macht sich daran, die Geschichte Daniel Feelds, von ihm selbst erlebt, direkt ins globale Fernsehnetz einzuspeisen. Potters Interview mit Melvyn Bragg ist nicht bloß ein hilfreicher inter-textueller Nebenschauplatz für das Thema Kommerz-TV und Kreativität. In der Ordnung des Programmverlaufes der Sendestationen lädt es die Science-Fiction-Story mit aktueller Bedeutung auf, ganz wie in Karaoke Teilbereiche der Gegenwart Daniel Feelds sich als seine literarische Vorstellung entpuppen.

Der Unterschied zwischen Bildern in erfundenen Geschichten, gespeicherten Erinnerungen und der dokumentarisch erfaßten Wirklichkeit, geht verloren. Im Gespräch nennt Potter als Grund dafür die Unterwerfung von Bildmaterial und Sendezeit unter die Logik des Kapitals. Es wird ihm nicht entgangen sein, daß seine eigene Intervention diesen Umständen nicht entkommt. Provokant kehrt er diese Einsicht als Spitze gegen die ,,allmächtigen`` Medien. Seine Analyse inspiriert die Story, die sich gegen den fiktionalisierten Rupert Murdoch wendet. Das Plädoyer der totkranken Person und seine Phantasieschöpfung fließen ineinander. Damit -- auch das ist Potter sicherlich bewußt gewesen -- ergibt sich eine zwiespältige Situation. Auf der einen Seite ist es ihm gelungen, seine Befürchtungen einem großen Publikum einprägsam darzustellen. Der Kopf Daniel Feelds, der sich der Ausbeutung seiner Erinnerungsbilder ausgesetzt sieht, entwickelt in ferner Zukunft einen eigenen Willen: ,,Let me go!`` ,,Cold Lazarus`` schließt mit der Zerstörung dieser Imaginationsquelle, einem finalen Akt der Verweigerung, der die ästhetische und ethische Autonomie des Autors noch einmal hochleben läßt. Die Kehrseite dieses Finales ist die Unwiederbringlichkeit der alten Ordnung, welche Potters Stellungnahme, zusammen mit seinem Script, zum Äußersten ausreizt. Die Selbst-Affirmation des Schriftstellers im Betrieb der Massenmedien ist noch einmal möglich, weiter geht es in dieser Perspektive nicht. Die Existenz im Fernsehen ist dagegen unabschließbar und kaum gegen künftige Technologie-Schübe gefeit. Die Problematik wird noch deutlicher, wenn man das Ende eines Kinofilms nach Potters Skript zum Vergleich heranzieht.

Arthur wird wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, zum Tod verurteilt. Seine Freundin sieht, von weitem, wie er am Schaffott die letzten Worte spricht. Es ist ein Zitat aus dem Titelsong des Films ,,Pennies from Heaven``. Niemand schätzt den blauen Himmel, wenn es nicht hin und wieder regnet. Schlechtes Wetter ist darum nicht negativ. Regentropfen sind ,,pennies from heaven``, um die man sich gutes Wetter kaufen kann. An dieser Stelle kulminiert die traurige Geschichte des Helden mit einer Einstellung auf die Freundin, die hinter einem Fenster steht. Die Exekution ist als Übergang deklariert; Steve Martin singt ein bewegendes Solo, das mit ,,...for you and me`` verklingt. Schnitt auf ein Schattenmuster. Aus dem dunklen Hintergrund läuft Arthur nach vorne, in einen Lichtkegel. Schnitt auf Eileen vor einer prächtig roten Wand. ,,Arthur, was machst Du hier?`` Steve Martin, glücklich lächelnd: ,,Wir hätten das alles doch nicht ausgehalten ohne Happy End.`` Sie fallen einander in die Arme, Musik setzt ein, Schnitt zu einer choreographierten Szene. Im Trupp sitzen Revuegirls am Boden und strecken nach einem anderen Song die Beine in die Höhe. ,,You have to laugh a little ... cry a little ... that's the story of, that's the glory of love.`` Als Kopfbedeckung trägt die Partie die Attrappe eines Pennys, der Film schließt mit Tanzeinlagen, Liebesduett und Regenbogen vor Wolken, freiem Himmel, Sonne.

Stanley Cavell, ein wohlmeinender Exeget des Films, hält dieses Ende für verfehlt. Er hätte nichts dagegen, wenn der Gouverneur mit heulenden Sirenen vorgefahren wäre und die Begnadigung verkündet.

Stattdessen gleitet der Film in einen Abschluß, in dem der Held ohne Anlaß in der Erzählung selbst wieder bei seiner Freundin auftaucht und so ungefähr sagt: ,,Wir haben zu hart gearbeitet um uns kein Happy End zu verdienen.`` Das kommt mehr oder weniger darauf hinaus, anzunehmen, daß die Konven­ tionen, die dem Film seine Überzeugungskraft verleihen, willkürlich verfügbar sind. (Cavell (1995, S. 27). Cavells paraphrasiertes Zitat überspielt die Tatsache, daß seine Bemerkungen sich auf eine einzige Vorführung des Filmes stützen. Er reflektiert diesen Mangel selbst und setzt ihn zur Vergänglichkeit des Kino-Erlebnisses in Beziehung. In einem Beitrag aus dem Jahre 1983 mag das angehen. Beim Wiederabdruck 1995 ist es nicht mehr vertretbar.)

Tatsächlich ist das der entscheidende Punkt. Cavell weist zu Recht darauf hin, daß ,,Pennies from Heaven`` eine ironische Genre-Produktion ist, deren Distanz von Hollywood indirekt an der Zugkraft der ungebrochenen Exemplare partizipiert. Im Hinblick darauf wäre auch ein begütigender Schluß erlaubt, solange er sich im Rahmen der artifiziellen Welt des Musicals hält. Potter geht einen Schritt weiter und es ist instruktiv zu sehen, daß er zu einem Abschluß führt, den der Filmtheoretiker Cavell glatt ablehnt.

Indem ,,Pennies from Heaven`` daran scheitert, auszudrücken, daß der Held eine Begnadigung verdient -- vielleicht in Form eines ironischen Trostes -- wird der Film gleichzeitig seinem Hollywood-Medium und seiner Quelle im Brechtschen Theater der Verfremdung untreu (Cavell, 1995).
Der anstößige Schritt besteht darin, den erwünschten positiven Ausgang nicht mehr in die Form einer in sich schlüssigen Erzählung (oder deren Persiflage) zu verpacken. Das Happy End hat ökonomische Gründe. Durch die Lücke in der narrativen Vermittlung stolpern die Zuseherinnen (m/w) über dieses Gesetz des Showbusiness. Ironie ist im Vergleich dazu Beschönigung.

Cavell operiert mit einer Dichotomie: entweder die Logik der Narration, oder die Willkür beliebiger Abläufe. Dennis Potters Filmabschluß plaziert sich dazwischen: er zeigt, in einem linearen Ablauf, daß eine externe Gesetzlichkeit die Erzählung determiniert. Gerade darin, daß der Ablauf nicht der internen Begründungspflicht gehorcht, zeigt sich ein maßgeblicher Grund für die gewohnte Genre-Konvention. Das Prärogativ, über den Endschnitt zu verfügen, wird eingesetzt, um die Überheblichkeit vor Augen zu führen, die dem Autorenfilm unter den spätkapitalistischen Umständen anhaftet. Noch die Demonstration der Ohnmacht des klassischen Erzählprinzips wird als Ende einer Erzählung gehandhabt. Cavells Bedenken, daß jenseits der Konventionen die Willkür herrsche, sind längerfristig kaum widerlegbar. Narrativer Sinn ist eine nur beschränkt ausbeutbare Ressource; Filme, in denen alles erlaubt ist, können nicht zu einem plausiblen Ende führen. Potter, dem die End-Losigkeit eines Mediums aus der Arbeit im Fernsehen vertraut war, hat sie in ,,Pennies from Heaven`` filmisch artikuliert und konterkariert. Wie in der ästhetischen Avantgarde verbindet er das Bild mit dem Verbot, es nachzumachen. Er erzeugt im Massenmedium unfaßbare Augenblicke. Damit sind wir allerdings vom Thema abgekommen. Es ging um die Bedingungen, Kunst für weite Kreise der Bevölkerung herzustellen, nicht um die sorgfältige Inszenierung eines Totpunkts.

Walter Benjamin und Buzz Lightyear

Die Inszenierung Dennis Potters ist ein Schlußstrich unter eine Tradition emanzipatorischer Theorien der Massenmedien. Melvyn Bragg greift in seiner Einleitung zum Interview einen Topos auf, der sich bis in die 30-er Jahre zurückverfolgen läßt. Kein Autor hätte in der bisherigen Geschichte mit seinen Werken ein derart großes Publikum erreicht. Kunst für die Massen hieß in der angesprochenen Tradition -- nach der Zurückweisung des elitären Separatismus des Bildungsbürgertums -- der Aufbruch zu neuen Möglichkeiten sozialer Selbsterfahrung und konstruktiver Umgestaltung verknöcherter Verhältnisse. Walter Benjamin setzte den technischen Produktionsprozeß der ihm vorliegenden Massenmedien (Fotografie und Film) in ein direktes Verhältnis zur emanzipatorischen Praxis.

Von der photographischen Platte zum Beispiel ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik (Benjamin, 1963, S. 27).
Daß Benjamin recht behalten hat, sich aber in den Hoffnungen auf Politik getäuscht hat, ist die bittere Pointe der Diagnose des Potter-Interviews. Die Entwicklung des politischen Bewußtseins galt als erster Schritt zur sozialistischen Gesellschaftstransformation. Der proletarisch-revolutionäre Umgang mit Foto und Film eröffnete die Perspektiven einer ästhetisch anspruchsvollen Massenkultur. Heute bedeutet ,,politisches Bewußtsein``, sich Rechenschaft darüber abzugeben, daß mit der Fusion von AOL und Time/Warner ein Medienkonzern entsteht, dessen Magazine 120 Millionen Leserinnen (m/w) erreichen, der 150 Millionen Internet-Zugang verschafft und dessen TV-Kanäle weltweit von einer Milliarde gesehen werden können.

Die suggestive Bemerkung Benjamins, daß die ,,Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe (Benjamin, 1963, S. 16)`` kathartische Wirkungen auslöst, ist als Basis für die Erfassung der Eigenart von MAssenmedien zu schmal. Schärfer gesagt: die ideologisch ansprechende Idee der Emanzipation der Massen durch Kunst aus Massenproduktion trägt einen Teil der SChuld für die Hilflosigkeit mit der Theoretikerinnen (m/w) aus der linken Tradition dem gegenwärtigen Kollaps ihrer Ideale gegenüberstehen. Der zwiespältige Charakter der Rede von der ,,Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle (Benjamin, 1963, S. 19)``, die das Kunstwerk ,,zum erstenmal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual`` emanzipiert, ist schon in Benjamins Titel erkennbar. ,,Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit`` kann (zumindest) zweierlei bedeuten. Erstens: Kunstwerke, die Authentizität verlangten, geraten in veränderte Umstände, in denen sie technisch reproduzierbar werden. Zweitens: Neuerdings entstehen Kunstwerke, die auf Grund ihrer Machart gar keinen Anspruch auf Echtheit erheben können. Offenbar ergeben sich in beiden Fällen unterschiedliche Konsequenzen. Bedenklich sind Argumente, die diese Differenz verwischen.

Etwas, zu dessen Beschreibung die Einzigartigkeit gehört, verliert in der Reproduktion eine unverzichtbare Eigenschaft. Anders liegen die Verhältnisse beim Foto und beim Film. Sie haben in dieser Hinsicht von Anfang an nichts zu verlieren. Der erste Fall kann Anlaß dazu geben, vergangenen Zeiten nachzutrauern, der zweite motiviert den Optimismus, ohne elitäre Pose auskommen zu können. So weit, so gut -- das sind zwei gegensätzliche Einstellungen. Verzwickt wird Benjamins Überlegung, wo er beiden ein gemeinsames Substrat unterstellt: das Kunstwerk. Das ist ein metaphysisches Konstrukt, welches auf seinem Gang durch die Geschichte seine Aura verliert und dafür die Massen bewegen kann. Dahinter steckt das Motiv der Kenosis mit anschließender Auferstehungshoffnung. Die unbedenkliche Aufladung diagnostischer Aussagen durch dialektische Begriffsdynamik erzeugt Überraschungseffekte.

Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten, zum Beispiel einem Picasso gegenüber, schlägt sie in das fortschrittlichste, zum Beispiel angesichts eines Chaplin, um (Benjamin, 1963, S. 37).
Um diesen Umschlag konstruieren zu können, muß Benjamin den entscheidenden Unterschied zwischen Picassos und Chaplins Verhältnis zu Massenmedien aussparen. Picassos Malerei ist die Reproduktion äußerlich, Chaplins Filme benötigen sie konstitutiv. Zwischen diesen beiden ästhetischen Modalitäten gibt es so wenig einen dialektischen Sprung, wie zwischen einer Novelle und einer Symphonie. Das Kunstwerk, welches neue Qualitäten im Verhältnis der Massen zur Kunst bewirken soll, ist eine Worthülse. Produkte, die Anspruch auf das Prädikat ,,Kunst`` erheben, tun das auf vielfältige und bisweilen antagonistische Weise. Der Prozeß unterliegt Moden und dem Medienwandel, die etablierte Strategien immer wieder in den Hintergrund drängen. Man kann den Verlust vertrauter Gestaltungsmöglichkeiten beklagen. Daraus folgt weder, daß die Neuigkeiten systematisch aus der Vorgabe zu begreifen wären, noch daß sie besser oder schlechter wären. Das Urteil über die Wiedergabe eines Picasso-Gemäldes und der Genuß eines Chaplin-Films sind nicht kommensurabel.

Um sich von den Spätfolgen der Romantik in der Bewertung des Verhältnisses von Kunst und Massenmedien zu befreien, sollte ein anderes Kriterium gefunden werden, als Traditionsverlust. Im Hinblick auf die Frage, wie es nach den von Potter festgestellten Blockaden weitergeht, hilft eine analytische Begriffsbestimmung. Noël Carroll hat versucht, das Spezifikum des Films in Abhebung zu den darstellenden Künsten mit den Kategorien Typus und Instanz zu erfassen. Ich zitiere des Fachjargons wegen im Englischen Original: ,,a film is a type whose token performances are generated by templates that are themselves tokens. (Carroll, 1998, S. 214)`` Wie bei Romanen oder Musikstücken -- und anders als bei Ölgemälden oder Gebäuden -- kommt es beim Film nicht auf das Einzelexemplar an, sondern darauf, daß er einen Typ verwirklicht. In dieser Umsetzung spielt die Technik eine charakteristische Rolle. Während z.B. die Aufführung eines Dramas die Interpretation einer Textvorlage erfordert, entsteht die Projektion im Kino aus der mechanischen Verarbeitung einer Vorlage. Ein Filmstreifen ist ein Einzelding, das einen Typus instantiiert und dazu einem technischen Verfahren unterzogen wird. Diese nüchternen Feststellungen grenzen an Banalität. Dennoch können sie Impulse für den theoretischen Umgang mit Kunst und Massenmedien geben.

Ein Aspekt der Analyse Noël Carrolls springt ins Auge. Die Ästhetik der Massenmedien muß zunächst einmal bestimmen, worin das Massenhafte liegt, anders gesagt: wo die Technik ansetzt, die den spezifischen Multiplikationseffekt erzeugt. Diese Bestimmung hat noch nichts mit Kunst zu tun. Die reflektierte Typologie gilt auch für Gebrauchsanleitungen auf Video oder Sportübertragungen. Damit ist die sentimentale Suggestion ausgeschaltet, weitreichende, billig verfügbare Produktionen würden eine neue Epoche emanzipatorischer Kunst auslösen. Diesbezügliche Hoffnungen haben die Analyse für das simple Faktum blind gemacht, daß im Instrumentarium der Filmvorführung so wenig Kunst steckt, wie in der Wasserleitung. Der technizistische Fehlschluß, der vorgibt, etwas sei schon deshalb zu begrüßen, weil es machbar ist, hat sich in versteckter Form auch in die frühen fortschrittlichen Medientheorien eingeschlichen. Nach seiner Ausschaltung zeigt sich deutlicher, wo das Problem liegt. Im Bereich der Massenmedien ist eine differentia specifica zu markieren, welche die Kunstproduktion vom restlichen Angebot abhebt. Das kann nicht dadurch geschehen, daß die Paradigmen klassisher Kunst durch das technisch Verfügbare gleichsam auf die Probe gestellt werden. So ein Unternehmen endet melancholisch. Was ein Kunstwerk sei, ist unter den Bedingungen des Weltmarkts an Unterhaltungs- und Informationsangeboten neu zu erfinden.

Dennis Potter hat sich nicht gescheut, im Medium des Fernsehens einen auto-poietischen Kurzschluß zwischen seiner realen Einzelexistenz und den massenhaft konsumierbaren Phantasmen der breiten Öffentlichkeit herzustellen. Die cyber-technischen Inszenierungen Stellarcs weisen in eine ähnliche Richtung. Der Unpersönlichkeit der vermittelnden Maschinerie wird durch den Einsatz eines identifizierbaren Menschenlebens für einen Moment Einmaligkeit abgewonnen. Das ist Arbeit im Grenzbereich. Eine ausgewogenere Perspektive muß auch den Bereich erfassen, in dem die Medien für gewöhnlich funktionieren. Abschließend diskutiere ich darum ein Beispiel aus dem kommerziellen Unterhaltungskino. Es trägt die Züge der analytischen Filmdefinition. Man wird sich abgewöhnen müssen, das Thema Kunst und Kino vorwiegend mit den Brillen eines modernisierten Geniekults zu betrachten. Meine Überlegungen, die ihm keineswegs abgeneigt waren, enden darum mit einem Schlaglicht auf Buzz Lightyear.

Das ist ein Spielzeug aus dem Animations-Film ,,Toy Stoy``, eine Figur im Raumanzug, mit den entsprechenden technischen Rafinessen. In ,,Toy Story 2`` macht sich Buzz Lightyear mit einer Abordnung anderer Spielsachen aus Andys Sammlung daran, Woody, den gestohlenen Cowboy, heimzuholen. Dabei gerät der Anführer der Partie in eine metaphysische Katastrophe, nämlich ein Geschäft für Spielwaren, das in einem Gang hunderte Buzz Lightyears anbietet. Das kleine Ding ist die Instanz eines Typs; angesichts der technischen Reproduzierbarkeit der Entwurfsidee schrumpft der Held der Rettungsmission zum austauschbaren Requisit. So fühlt man sich unter dem Eindruck des Gedankens, daß alles gleich geschaffen und alles wertlos ist; eine Assoziation, die sich bei Durchsicht von TV-Kanälen spontan aufdrängt. In Pixars ,,Toy Story 2`` hat sie keinen Platz. Das Geschehen nimmt eine Wendung, die dem Störmoment elegant und intuitiv überzeugend ausweicht. Aus dem ontologischen Schock wird die Verwechslungskomödie zwischen zwei Buzz Lightyear-Exemplaren, eine Situation vertauschter Zwillinge. Die produktionstechnisch dominante Schablone, die keinen Platz für die Hochschätzung von Einzelexistenzen beitet, verliert ihren Schrecken, sobald die Exemplare in eine Geschichte eintreten. Ein Plastikastronaut wird durch den Gebrauch identifiziert.

Für Spielzeug ist das selbstverständlich, auch für den Spielfilm ist es im Prinzip kein Problem. Schwierig wird es an der Stelle, an der ein einzelnes Werkstück unverkennbar sein soll. Kunstpuppen, die solche Anforderungen erfüllen, eignen sich schlecht für's Kinderzimmer. Damit ist nicht gesagt, Puppen von der Stange seien als ästhetische Gegenstände disqualifiziert. Sie gehorchen anderen Regeln, als das Kunstgewerbe. Wittgenstein sagt an einer Stelle in den frühen Tagebüchern: ,,Es ist nämlich schwer, das, was nicht der Fall ist, nicht zu verwechseln mit dem, was stattdessen der Fall ist. (Wittgenstein, 1916, 25.11.1914)`` Die gewohnte Kunst ist in den Massenmedien nicht der Fall. Dieses Negativum unterscheidet sich komplett von der Ästhetik, die in den Massenmedien der Fall ist.

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Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909 - 1914.
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Wuss, P. (1990).
Kunstwert des Films und Massencharakter des Mediums.
Henschel, Berlin.

Hinweise:

Dieser artikel wurde vom autor Herbert Hrachovec auf einladung der Evangelischen Akademie für einen vortrag geschrieben, der ende Jänner 2000 in Arnoldsheim bei Frankfurt gehalten wurde. Der autor entschied sich jedoch kurzfristig den text nicht vorzulesen und vortrag frei zu sprechen. Die wiedergabe des artikels stellt also in dieser form eine erstveröffentlichung dar, und erfolgt mit der freundlichen genehmigung des autors.

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$Revision: 563 $ $Date: 2006-04-30 13:59:57 +0000 (Sun, 30 Apr 2006) $